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V. Herodot im Griechischunterricht nach 1945
V. 1 Herodotkritik in der Nachkriegszeit
In der Zeit nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges erfolgte in der
Herodotforschung keine grundlegende Neuorientierung, sondern das
Herodotbild blieb zumeist von den wegweisenden Arbeiten Regenbogens
und Pohlenz' beeinflußt. Deren fundamentale Forderung, man müsse
Herodot aus seiner Zeit heraus verstehen, um ihn angemessen würdigen
zu können, hatte sich offensichtlich durchgesetzt und in der Folgezeit zu
einer überwiegend positiven Würdigung Herodots geführt, zumal man
erkannt hatte, "daß wir Herodot nicht nach dem, was er nicht bringt, be-
urteilen sollten, sondern nach dem, was er geben konnte"1. Gleichwohl
lassen sich Tendenzen zu einer Neuorientierung des Herodotbildes fest-
stellen.
1. Herodot, ein Historiker, der Geschichte zu deuten versucht
a) Herodots religiöse Deutung von Geschichte
Die oben bereits erwähnten Forschungen der dreißiger Jahre hatten das
Interesse der Wissenschaft auf Herodot als den tiefsinnig religiösen Deu-
ter menschlicher Geschichte gelenkt, das auch in der Nachkriegszeit ein
zentraler Ansatz bei der Beurteilung Herodots blieb. Im Sinne von Focke
und Regenbogen würdigte man auch weiterhin Herodots ernsthafte Be-
mühungen um eine theologische Geschichtsdeutung2 und sah, wie z. B.
Walter F. Otto, Karl Deichgräber und Bruno Snell, in seiner religiös
definierten Weitsicht ein grundlegendes Element seines Historikertums.
Otto verweist dabei ebenfalls auf die Bedeutung der geistesgeschichtli-
chen Bedingungen des 5. Jahrhunderts für die Bewertung Herodots: Die-
ser habe noch in einer geistigen Welt gestanden, "da das Göttliche dem
Menschen so nahe war und sein Dasein und Walten so überzeugend kund
tat, daß keine zureichende Begründung historischer Ereignisse ohne Be-
rücksichtigung dieses entscheidenden Faktors denkbar war."3. Auch
1 LeifBergson (1966), S. 131; cf. Kapitel IV. 1, S. 171 ff.
2 cf. Wolfgang Marius von Leyden (1949-50), Walter F. Otto (1949), Karl Deich-
gräber (1952), Bruno Snell (1955), Hermann Strasburger (1966)
3 Walter F. Otto (1949), S. 22
V. Herodot im Griechischunterricht nach 1945
V. 1 Herodotkritik in der Nachkriegszeit
In der Zeit nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges erfolgte in der
Herodotforschung keine grundlegende Neuorientierung, sondern das
Herodotbild blieb zumeist von den wegweisenden Arbeiten Regenbogens
und Pohlenz' beeinflußt. Deren fundamentale Forderung, man müsse
Herodot aus seiner Zeit heraus verstehen, um ihn angemessen würdigen
zu können, hatte sich offensichtlich durchgesetzt und in der Folgezeit zu
einer überwiegend positiven Würdigung Herodots geführt, zumal man
erkannt hatte, "daß wir Herodot nicht nach dem, was er nicht bringt, be-
urteilen sollten, sondern nach dem, was er geben konnte"1. Gleichwohl
lassen sich Tendenzen zu einer Neuorientierung des Herodotbildes fest-
stellen.
1. Herodot, ein Historiker, der Geschichte zu deuten versucht
a) Herodots religiöse Deutung von Geschichte
Die oben bereits erwähnten Forschungen der dreißiger Jahre hatten das
Interesse der Wissenschaft auf Herodot als den tiefsinnig religiösen Deu-
ter menschlicher Geschichte gelenkt, das auch in der Nachkriegszeit ein
zentraler Ansatz bei der Beurteilung Herodots blieb. Im Sinne von Focke
und Regenbogen würdigte man auch weiterhin Herodots ernsthafte Be-
mühungen um eine theologische Geschichtsdeutung2 und sah, wie z. B.
Walter F. Otto, Karl Deichgräber und Bruno Snell, in seiner religiös
definierten Weitsicht ein grundlegendes Element seines Historikertums.
Otto verweist dabei ebenfalls auf die Bedeutung der geistesgeschichtli-
chen Bedingungen des 5. Jahrhunderts für die Bewertung Herodots: Die-
ser habe noch in einer geistigen Welt gestanden, "da das Göttliche dem
Menschen so nahe war und sein Dasein und Walten so überzeugend kund
tat, daß keine zureichende Begründung historischer Ereignisse ohne Be-
rücksichtigung dieses entscheidenden Faktors denkbar war."3. Auch
1 LeifBergson (1966), S. 131; cf. Kapitel IV. 1, S. 171 ff.
2 cf. Wolfgang Marius von Leyden (1949-50), Walter F. Otto (1949), Karl Deich-
gräber (1952), Bruno Snell (1955), Hermann Strasburger (1966)
3 Walter F. Otto (1949), S. 22