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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 6.1908

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Heft 12
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https://doi.org/10.11588/diglit.4705#0550
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keine geeignet, Erfahrungen zu sammeln, Vergleiche
zu ziehen und auf das junge Werden in der Heimat
günstig einzuwirken. Muthesius hat die Jahre in Eng-
land sowohl als Architekt wie als Kulturbetrachter aufs
Eifrigste benützt und mit grossem Ernst und tiefemVer-
stehen Alles studiert, was in den Kreis seiner Tätigkeit
gehörte. Als Beweis dieses Studiums, als Resultat der
englischen Lehre, hat er uns eben dieses dreibändige
Werk geschenkt, das in der Tat im besten Sinne als
ein Schulbuch für neuere englische Baukunst ange-
sprochen werden kann. Der beste Vorzug dieser Arbeit
ist, dass sie nicht das Werk eines den Forderungen des
Tages gegenüber gleichgültigen Historikers ist, sondern
ein Erlebnisdokument und das Werk eines Mannes, der
bis zur Leidenschaft modern, das heisst: lebendig emp-
findet. Es ist genug Geschichte in den Bänden, um auch
den Geschichtsfreund über die englische Baukunst bis
zur Zeit der Elisabeth und auch weiter zurück, genau
zu informieren; am meisten Nutzen wird aber doch Der
haben, der aus dem Vergangenen und Fremden zu
lernen lüstern ist, wie er sich seiner eigenen Zeit
gegenüber verhalten soll. Denn zwischen den Zeilen
liest man überall etwas wie einen Aufruf zu neuer
Sachlichkeit, Vernunft und Schönheit in unserer Archi-
tektur. Diese Bücher sind die Auseinandersetzung eines
ganz auf Thätigkeit, Tendenz und Gegenwart erpichten
Mannes mit sich selbst und der Versuch, den eigenen sozi-
alen und künstlerischen Instinkten im Historischen und
Fremden die Bestätigungen und Traditionen zu suchen.
Was Muthesius in diesem Werke will ist: was er als
sittlich empfindet, sich und Anderen auch als notwendig
zu beweisen. Das giebt den Büchern den Ernst, die
voraus- und rückwärtsschauende Bedeutung und die
Atmosphäre des Lebens; das reiht sie den seltenen Er-
scheinungen in dieser bücherreichen Zeit an.

Im Einzelnen sind die Bände unendlich reich. Der
erste Band enthält die historischen Entwicklungen, von
der vornormannischen Zeit bis zur Gegenwart und die
spezielle Entwicklung des modernen Hauses, die ja
reich ist an Zügen von wahrhaft epischer Kraft. (Man
denke nur an einen poesieverklärten Namen wie Morris.)
DerzweiteBand bespricht mit ausserordentlicher Gründ-
lichkeit und Fachkenntnis die Bedingungen des moder-
nen englischen Hauses (Geographisches, Soziales, Wirt-
schaftliches, Stadthaus und Landhaus, Reihenhaus und
Einzelhaus, innere Einrichtung, Garten und technische
Einrichtungen); der dritte Band endlich behandelt das
Interieur ebenso, wie in den beiden ersten Bänden die
Gesamtarchitektur behandelt worden ist.

Muthesius hat mit diesem Werk schon bedeutend
auf die Allgemeinheit gewirkt, in dem Sinne, dem er
seine ganze Thätigkeit gewidmet hat. Doch werden
die Bücher später noch, wenn die Zeittendenz darin
an Kraft verloren hat, andere ungeahnte Wirkungen
ausüben, weil sie, als Resultate eines lebendigen Er-
lebnisses, zu wichtigen Dokumenten, ja zu einem

Programm bürgerlicher Baukunst überhaupt geworden

• a K. S.

sind.

Honore Daumier, von Erich Klossowski.
Verlag R. Piper, München.

Gute Bücher zu empfehlen ist eines der schönsten
Vorrechte einer Zeitschrift.. Auch über Klossowskis
„Daumier" ist viel Gutes und Schönes zu sagen. Vor
allem: dieses Buch war notwendig. DennDaumiers be-
deutende Stellung innerhalb der französischen Kunst
war bisher eigentlich nirgends zu erkennen. Selbst nicht
in Paris. ImLouvre befindet sich nur wenig von diesem
Meister; und das Bildnis Berlioz1 in Versailles ist nicht
leicht zu finden. Die Werke sind mehr oder weniger
in Privatgalerien versteckt. Welche Gewalt und tradition-
bildende Kraft in ihrer Gesammtheit ruht, bringen die
Illustrationen des Buches von Klossowski nun überwälti-
gend fast zur Anschauung. Und da der Text in der
gründlichsten, von liebevollstem Verständnis getragenen
Weise mit Daumiers menschlicher und künstlerischer
Art bekannt macht, so legt man das Werk innerlich sehr
bereichert aus der Hand. Man vermag das Erlebnis der
Lektüre nicht mehr aus seinem Leben fortzudenken.
Dieses Buch ist das Ergebnis jahrelanger Studien eines
in Paris lebenden deutschen Malers, den Begeisterung
zu seinem Gegenstand geführt hat. Eine Lebensleistung
ist schon die Entdeckung des verstreuten Materials;
wertvoller noch aber ist es, dass Klossowski den be-
kannten Witzblattzeichner Daumier im wesentlichen
ausschaltet und den fast unbekannten Maler entdeckt hat.
So macht er uns mit dem Eigentlichen in Daumier erst
bekannt. Mit dem Griechischen nämlich, mit dem Mo-
numentalen und rembrandtisch Malerischen im Wesen
dieses ungestüm genialischen Franzosen. Klossowski
sieht die Höhen und Tiefen in der Persönlichkeit
Daumiers, ihre Lichter und Schatten mit psychologisch
geübtem, klaren Auge; aber er sieht auch die unge-
heuren Perspektiven der Zeit, die Entwicklungen der
französischen Kunstgeschichte in Verbindung mit der
Kunst Daumiers. Dies giebt seinem Werk den grossen
Zug. Er kann als ein von Meier-Graefe Beeinflusster
gelten. So leidenschaftlich kühn und impressionabel wie
Dieser ist er nicht; aber er ist gründlicher im Studium
und in der Erschöpfung des Gegenstandes. Die Malkunst,
die er ausübt, in Paris ausübt, hat ihn gelehrt immer
ein Ganzes zu sehen und ehrfürchtig zu erkennen, wie
die Notwendigkeit mächtig durch die Kunstentwicklun"
des neunzehnten Jahrhunderts als Tradition dahinrollt.
So kommt es, dass man beim Lesen dieses Buches und
vor den Reproduktionen nach der vom Genie durch-
zuckten Bilderwelt Daumiers, den heissen Athem der
Geschichte spürt, die Monumentalität auch in dieser
allbürgerlichen Zeit und dass man mit Gefühlen von
der Lektüre des Buches aufsteht, wie man sie hat, wenn
man, tragischer Erschütterung voll, das Theater verlässt.

K. S.

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