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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 7
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Neumann, Max: Kriegserlebnisse eines Berliner Malers: mit zwei im Felde angefertigten Radierungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0351

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werde ich diese Gesichter vergessen, alles Mensch-
liche ist darin ausgelöscht, schreckensvolle, irre
Masken. Bald sehen wir sie liegen hinter einer
Hecke auf grünem Rasen, in Reih und Glied.
Endlich heisst's Halt; wir sinken hin wo wir stehn;
was macht's, dass da auch ein paar Tote herum-
liegen ? — wir schlafen!

Der Weg nach Lüttich sieht nicht viel besser
aus; am Sonntag Abend ziehen wir ein, todmüde,
die Knochen kaput, aber alles ist vergessen, mit
klingendem Gleichschritt und dröhnendem Sang
geht's durch die Stadt. Halt! und der Zufall will's,
dass wir vor einem Restaurant halten, in dem ich
vor Jahresfrist mit meiner Frau gefrühstückt hatte —
leise intoniert man das schöne Lied von der „muta-
tio rerum". Mit einem Berliner Bekannten und
Zechkumpan, zufällig im selben Regiment, stossen
wir hier fröhlich auf alles mögliche an — jetzt
rauschen schon lange über seinem Grab dieherrlichen
Buchen von Villiers Cotteret.

Löwen, Tervueren, Bois de la Cambre, Brüssel,
Hall, Jemappe (erste Begegnung mitdenEngländern).
Offizierspatrouille, die nachts zurückkehrend nur
konstatieren kann, dass das Regiment längst über
alle Berge ist, unbekannt wohin. Ratlosigkeit! Doch
ein dickes flämisches Ehepaar, das in tiefstem
Decollette eben zur Ruhe gehen will, bekommt
Einquartierung. Rasch noch Kaffee gekocht, dann
strecken sich zehn Mann glückselig zum Schlaf auf
dem Fussboden, während monsieur et madame
etwas zögernd hinter dem fadenscheinigen Wand-
schirm das Familienbett aufsuchen. Morgens herz-
licher Abschied und Fortsetzung der Suche nach
dem Regiment. Wasmes im Kohlenrevier. Ich finde,
dass es bequemer wäre, wenn man jetzt fahren
könnte; begeisterte Zustimmung, es gelingt mir,
Wagen und Pferd zu requirieren. Fröhlich kut-
schiere ich drauf los, das Haupt von einem pom-
pösen grünseidenen Sonnenschirm überdacht. Einige
Hühner fliegen unterwegs mit umgedrehten Hälsen
in den Wagen. Kartoffeln und Gemüse liefern
die Felder rechts und links vom Wege — die Er-
nährung ist für diesen Tag gesichert. Am nächsten
Tag wird das Regiment erreicht.

Frankreich. Gewaltmärsche, siedende Hitze, Tag
für Tag die gleichen Leiden. Die Bagage kommt
nicht mit, fünf Tage lang leben wir von rohem Obst
und Wasser. An einem regenschweren Abend ganz
unten am Horizont ein matter rötlicher Schein:
Paris. Und dann begann der Rückzug; wieder ein
Sonntag, schwere feindliche Artillerie reisst die

Kolonnen auseinander, bataillons-, kompagnieweise
wird Deckung gesucht, immer wieder werden wir
verjagt, das Feuer kesselt uns ein; stundenlang
liegen wir dann in einem Wäldchen, in das un-
entwegt Granaten und Schrapnells mit höllischem
Krachen einschlagen: stärkste Nervenprobe so un-
thätig ausharren zu müssen; endlich, mit sinkender
Nacht schläft das Feuer ein.

Rast am Bahndamm; vor Morgengraun gehts
weiter, die Bataillone sammeln sich. Aber noch
ist's nicht hell, als der Tanz von neuem losgeht.
Doch rücken wir bald ab, ein anderes Korps soll
den Rückzug decken. Weiter zurück; in der ent-
nervenden Gleichmässigkeit dieser endlosen Märsche
manchmal Momente innerer Sammlung, Wieder-
erwachen der Empfindung: reizende Dörfer und
kleine Städte mit herrlichen frühgotischen, roma-
nischen Kirchen, alles natürlich im Verfall, ab-
bröckelnd, selten stilrein, aber stets von höchstem
Charmein den Einzelheiten und als Ganzes vollendetin
die Umgebung eingefügt, so dass eine vollkommene
ästhetische Befriedigung ausgelöst wird. Höhe-
punkt Noyon. Zum zweiten Mal wird die Oise,
die raschfliessende grüne Marne überschritten. Hier
wurde mir auf einmal Corot lebendig, aber noch
heller, strahlender, heiterer. Diese Reinheit und
Einfachheit der Farbe und vollkommene Klahrheit
der Zeichnung erregten meine Bewunderung und
meinen Neid. Es ist sicher, dass die französischen
Maler in mancher Beziehung es leichter hatten als
wir, doch eben hier sagte ich mir, dass eine grössere
Leidenschaftlichkeit, als sie den Franzosen gemein
ist, solchen Objekten noch ganz andere Wirkungen
abzuringen vermöchte.

Mitte September kommt der Rückzug zum
Stehen; heftige Regengüsse. 14. September von
morgens bis Abend schweres Gefecht gegen die
Engländer in der Nähe von Vailly, nördlich der
Aisne, grosse Verluste, ein lieber Kamerad ist
gefallen! Einige Tage liegen wir mit durchnässten
Kleidern in primitiven Löchern, von den schweren
Schiffsgeschützen unter Feuer genommen. Am 19.
wieder Gefecht, endlich wird unsere Stellung
fixiert und wir beginnen uns einzugraben. Schützen-
grabenära. Freud und Leid, aber ich komme zum
Lesen, Schreiben, Zeichnen und richte mich immer
häuslicher ein in meiner Erdhöhle, so dass ich nur
schweren Herzens mich trennte, als wir in der
Nacht vom 30. Oktober diese Stellung räumten
und nach dem nahen Ostel abrückten. „Ortsquartier"-
im Schafstall.

3*7
 
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