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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 10
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Beckmann, Max; Beckmann-Tube, Minna: Feldpostbriefe aus dem Westen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0492

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dass bei unsrer Quartier-
wirtin immer eine Kon-
fusion entstand^ wenn sie
uns wecken musste.

Und dann diese ganze
ruhige, absolute Beherr-
schung, die bis in die
kleinsten Details geht.

Am ersten Tag sah ich
dreissig gefangene Englän-
der, eingebracht von sechs
Ulanen. Lehmfarbige Exi-
stenzen, amüsant selbstbe-
wusst.

Courtray, d. 2. 3. 15.

Sehr interessant ist un-
ser gemeinsames Essen in
einem grossen Küchen-
raum, einer Art Refekto-
rium, wo ich mit zirka
dreissig Mann im Drillich-
anzug zusammen esse. Es
sind wunderbareMenschen
und Gesichter darunter.
Viele, die ich liebe und
die ich alle zeichnen werde.
Grobe, knochige Gesichter
mit intelligentem Ausdruck
und schönen piimitiven unmittelbaren Ansichten.
Riesige Soldatenköche, plump und schwer. Masken-
hafte, sinnlos witzige, dauernd schwatzende neben
grotesk humoristischen, wirklich witzigen. Leute
mit dicken Köpfen und schwarzen, wilden Brauen,
neben gutmütig lächelnden, enorm fressenden Exi-
stenzen.

Ach, das ist wieder einmal Leben!

Mein kleiner Freund liebt sehr die Damen
und hat mich hier schon in die verschiedensten
Estaminets eingeführt. Flora und Gabriele van
Bellegeln schicke ich Dir nächstens. Flora ist ent-
zückend, wie ein ins Aristokratische übersetzter Ru-
bens, nur leider sehr schmutzig.

Mein Freund und ich reinigen mittags zusam-
men den Operationssaal, ich lerne auf diese Weise
auch die Gefühle der Aufwartefrau verstehen. Ich
selbst schwanke andauernd zwischen grosser Freude
über alles Neue, was ich sehe, zwischen Depression
über den Verlust meiner Individualität und einem
Gefühl tiefer Ironie über mich und auch gelegent-
lich über die Welt. Schliesslich nötigt sie mir aber

doch immer wieder Be-
wunderung ab. Ihre Varia-
tionsfähigkeit ist unbe-
schreiblich und ihre Erfin-
dungsfähigkeit grenzenlos.

d. 4. März 1 5.

Ich schreibe im Ope-
rationssaal, es war heute
nicht viel zu tun, wir sind
früher fertig geworden.
Mir geht es recht gut, das
einzig Bedauerliche ist nur,
dass man so wenig frei ist.
Von 8— 1 und 4—7 muss
man da sein. Schön sind
die Ansammlungen im Ope-
rationssaal, mit den dunk-
len verwilderten Gesich-
tern, den grossen Barten
und weissen Verbänden.

Abends bummele ich
in den Kneipen herum.

fc- '1J*^*>i ^en ganzen Tag donnern

die Geschütze und es ist
amüsant, zu beobachten,
wie sich die Menschen
daran gewöhnt haben, wie
an die Sonne, diesen schau-
Liebe, kleinliche Zänkerei,
Handel und Ehrgeiz nehmen denselben Fortgang
wie früher, trotzdem der Tod wenige Kilometer
von hier sein wildes Lied singt. Was für ein
Glück doch die Phantasielosigkeit für die Men-
schen, ist.

Des Abends in meinem Zimmer. Die Fenster
stehen weit offen, draussen rattert ein Hundewagen
über das Pflaster, in der dunkeln Nacht sieht man
nur ein paar erleuchtete gotische Fenster irgendwo
und dunkel und schwer die Silhouette einer alten
turmartigen Mühle.

Ab und zu dröhnt eine Salve durch das Dunkel
zu mir herüber.

Schwere schöne Rhythmen von Formen und
Gefühlen erheben mich und machen mir das Leben
leicht auf Augenblicke.

Eben klopft es und herein tritt ein braver
Soldat mit qualmender Zigarre: „Ich möchte mir
doch auch mal die schönen Skizzen und Malereien
ansehen, die Sie gemacht haben."

Nun steht er mir gegenüber, blättert in meinen

rigen Weltenbrand.

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