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Michelangelo.
Abb. 89. Christusfigur für die Kreuzabnahme
des Daniel da Volterra. Kreidezeichnung in der
Sammlung der Kunstakademie zu Venedig.
(Nach einer Originalphotographie von Braun, Element
L Cie. in Dörnach i. E. und Paris.)
mahlte sie sich mit ihrem Jugendgespielen
Ferrante Francesco d'Avalos, Markgraf von
Pescara, dem sie schon als Kind verlobt
worden war. Pescara starb 1525 an den
Wunden, welche er in der Schlacht bei
Pavia empfing. Die Witwe suchte Trost
in Andachtsübungen, in Werken der Wohl-
thätigkeit und in der Dichtkunst. Sie nahm
ihren Aufenthalt in verschiedenen Klöstern,
in Orvieto, Viterbo, Rom. Von 1544 bis zu
ihrem Tode im Februar 1547 verweilte sie
dauernd in Rom bei den Nonnen von S. Sil-
vestro in capite. In ihrer Zurückgezogenheit
von dem Treiben der Welt versagte Vittoria
Colonna sich nicht den Genuß des Verkehrs
mit geistreichen Männern, mit denen sie sich
über Religion, Dichtung und Kunst unter-
halten konnte. Man weiß nicht, wann ihr
Verkehr mit Michelangelo begann, der sich
zu dem innigsten und reinsten Bund zweier
für das Schöne und Erhabene begeisterten
Seelen gestaltete; die Vermutungen schwanken
zwischen den Jahren 1533 und 1538. Die
Markgrüfin war nicht mehr jung, und Michel-
angelo war dem Greisenalter nahe, als sie
sich kennen lernten.
Unter den Gedichten aus Michelangelos
Jugendzeit gibt es einige wenige — sie
fallen in das Jahr 1507 —, welche sich
mit heißem Verlangen an eine Geliebte
wenden; das ist das einzige, was darauf
hinweist, daß er in jüngeren Jahren nicht
völlig unempfindlich gegen Frauenliebe ge-
blieben sei, und nichts läßt vermuten, daß
es sich hier um mehr als eine flüchtige
Neigung gehandelt habe. Was die Kunst
in Michelangelos Herzen an Raunr übrig-
ließ, wurde, solange sein Vater lebte, durch
die Sorge für dessen Wohlergehen ausgefüllt.
Erst als diese liebgewordcne Sorge von ihn:
genommen war, empfand er das Bedürfnis,
sich enger an einen gleichgesinnten Menschen
anzuschließen. Auf eine geradezu leiden-
schaftliche Freundschaft zn einem jungen,
vornehmen Römer, Tommaso de' Cavalieri,
den er mit Geschenken von Zeichnungen über-
häufte und dessen lebensgroßes Bildnis er
zeichnete, obgleich sonst das Porträtieren gar
nicht seiner Neigung entsprach, folgte die Liebe
zu Vittoria Colonna. Gegenseitige Bewun-
dernng des Dichters und der Dichterin
knüpfte das Band, das um so fester und
inniger wurde, je näher diese beiden un-
gewöhnlichen Persönlichkeiten im schriftlichen
Verkehr und in mündlicher Unterhaltung
einander kennen lernten. In dieser ebenso
glühenden wie ehrfurchtsvollen Liebe fand
die ungestüm leidenschaftliche Seele Michel-
angelos eine beglückende Ruhe.
Die Mehrzahl von Michelangelos Ge-
dichten sind in der Zeit des Umgangs mit
Vittoria Colonna entstanden. Die meisten
unter ihnen sind der Liebe zu dieser hohen
Fran gewidmet. Andere nicht minder be-
geisterte gelten der Vaterstadt, und einige
der schönsten sind dem großen Dichter ge-
widmet, der gleich ihm gezwungen war, das
geliebte Florenz zu meiden; Michelangelo
war ein großer Kenner nnd Verehrer Dantes,
und es ist sehr zu beklagen, daß ein von
ihm mit Randzeichnungen versehenes Exem-
plar der Göttlichen Komödie bei einem Schiff-
bruch zn Grunde gegangen ist. Sehr zahl-
reich sind ferner die Gedichte religiösen In-
halts, aus denen eine wunderbare Tiefe
der Empfindung spricht. Ernste, christliche
Frömmigkeit War ein Grundzug von Michel-
angelos Wesen; er wurde nicht müde, in
Michelangelo.
Abb. 89. Christusfigur für die Kreuzabnahme
des Daniel da Volterra. Kreidezeichnung in der
Sammlung der Kunstakademie zu Venedig.
(Nach einer Originalphotographie von Braun, Element
L Cie. in Dörnach i. E. und Paris.)
mahlte sie sich mit ihrem Jugendgespielen
Ferrante Francesco d'Avalos, Markgraf von
Pescara, dem sie schon als Kind verlobt
worden war. Pescara starb 1525 an den
Wunden, welche er in der Schlacht bei
Pavia empfing. Die Witwe suchte Trost
in Andachtsübungen, in Werken der Wohl-
thätigkeit und in der Dichtkunst. Sie nahm
ihren Aufenthalt in verschiedenen Klöstern,
in Orvieto, Viterbo, Rom. Von 1544 bis zu
ihrem Tode im Februar 1547 verweilte sie
dauernd in Rom bei den Nonnen von S. Sil-
vestro in capite. In ihrer Zurückgezogenheit
von dem Treiben der Welt versagte Vittoria
Colonna sich nicht den Genuß des Verkehrs
mit geistreichen Männern, mit denen sie sich
über Religion, Dichtung und Kunst unter-
halten konnte. Man weiß nicht, wann ihr
Verkehr mit Michelangelo begann, der sich
zu dem innigsten und reinsten Bund zweier
für das Schöne und Erhabene begeisterten
Seelen gestaltete; die Vermutungen schwanken
zwischen den Jahren 1533 und 1538. Die
Markgrüfin war nicht mehr jung, und Michel-
angelo war dem Greisenalter nahe, als sie
sich kennen lernten.
Unter den Gedichten aus Michelangelos
Jugendzeit gibt es einige wenige — sie
fallen in das Jahr 1507 —, welche sich
mit heißem Verlangen an eine Geliebte
wenden; das ist das einzige, was darauf
hinweist, daß er in jüngeren Jahren nicht
völlig unempfindlich gegen Frauenliebe ge-
blieben sei, und nichts läßt vermuten, daß
es sich hier um mehr als eine flüchtige
Neigung gehandelt habe. Was die Kunst
in Michelangelos Herzen an Raunr übrig-
ließ, wurde, solange sein Vater lebte, durch
die Sorge für dessen Wohlergehen ausgefüllt.
Erst als diese liebgewordcne Sorge von ihn:
genommen war, empfand er das Bedürfnis,
sich enger an einen gleichgesinnten Menschen
anzuschließen. Auf eine geradezu leiden-
schaftliche Freundschaft zn einem jungen,
vornehmen Römer, Tommaso de' Cavalieri,
den er mit Geschenken von Zeichnungen über-
häufte und dessen lebensgroßes Bildnis er
zeichnete, obgleich sonst das Porträtieren gar
nicht seiner Neigung entsprach, folgte die Liebe
zu Vittoria Colonna. Gegenseitige Bewun-
dernng des Dichters und der Dichterin
knüpfte das Band, das um so fester und
inniger wurde, je näher diese beiden un-
gewöhnlichen Persönlichkeiten im schriftlichen
Verkehr und in mündlicher Unterhaltung
einander kennen lernten. In dieser ebenso
glühenden wie ehrfurchtsvollen Liebe fand
die ungestüm leidenschaftliche Seele Michel-
angelos eine beglückende Ruhe.
Die Mehrzahl von Michelangelos Ge-
dichten sind in der Zeit des Umgangs mit
Vittoria Colonna entstanden. Die meisten
unter ihnen sind der Liebe zu dieser hohen
Fran gewidmet. Andere nicht minder be-
geisterte gelten der Vaterstadt, und einige
der schönsten sind dem großen Dichter ge-
widmet, der gleich ihm gezwungen war, das
geliebte Florenz zu meiden; Michelangelo
war ein großer Kenner nnd Verehrer Dantes,
und es ist sehr zu beklagen, daß ein von
ihm mit Randzeichnungen versehenes Exem-
plar der Göttlichen Komödie bei einem Schiff-
bruch zn Grunde gegangen ist. Sehr zahl-
reich sind ferner die Gedichte religiösen In-
halts, aus denen eine wunderbare Tiefe
der Empfindung spricht. Ernste, christliche
Frömmigkeit War ein Grundzug von Michel-
angelos Wesen; er wurde nicht müde, in