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Michelangelo; Knapp, Fritz [Hrsg.]; Knapp, Fritz [Bearb.]
Michelangelo: des Meisters Werke in 166 Abbildungen — Klassiker der Kunst in Gesamtausgaben, Band 7: Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.68076#0036
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mehr denn Michelangelo, der der Verführer zu oberflächlicher Geistreichelei gescholten
wird, offenbart gleich deutlich, daß Reichtum der Erfindung und Phantasie gegründet
sein müssen in Tiefe innerer Empfindung und daß die Gestaltungsenergien gestählt werden
müssen durch andauernden Fleiß. Das zeigt am deutlichsten die wunderbar fein durch-
gebildete Statue des Moses (S. 88). Anfänglich drängt sich sogar das zum äußersten
gesteigerte Raffinement der Technik zu stark auf. Wir sehen den ehrgeizigen Florentiner,
der die Natur an Wahrheit, die Antike an Feinheit der Technik zu übertreffen sucht
Der Moses tritt dem Laokoon entgegen. Letzterer ist nackt gebildet, Moses bekleidet,
und doch scheint Michelangelo die Antike zu übertrumpfen in außerordentlicher Feinheit
der Wiedergabe des nackten Fleisches. Ein kleines Stück nur, der linke Arm, hat allen
nachfolgenden Geschlechtern als das Bravourstück raffinierter Technik gegolten, dessen
Wirkung durch den Kontrast zu dem faltenreichen Kostüm noch gesteigert wird. Auch
diese Falten sind von höchster Realistik der Behandlung: das dünne Gewand liegt am
Körper fest an, während der weite Mantel seine vollen, schweren Falten schlägt, gleich
einem Strudel das rechte Knie umspielend. Und dieses Knie, nur von dem durch-
scheinenden Stoff einer dünnen Hose bedeckt, scheint in der sorgsamen Durchbildung
und in solcher Umrahmung ein Individuum für sich zu sein. Ebenso lebt in dem
mächtigen Bart, der gleich einem wilden Schlinggewächse oder übersprudelnden
Bache sich über die breite Brust ausdehnt, ein eignes Leben.
Aber diese Einzelteile, bald lebhafter, bald schwächer die Seele ihres Meisters
atmend, ergeben, so individuell sie für sich dastehen, ein von mächtigstem
inneren Leben durchwogtes Ganze. Dieser Moses ist der letzte aus dem Heroen-
geschlechte der Propheten und der Sibyllen. Er ist zugleich der gewaltigste unter ihnen,
den tiefen, denkenden Geist des greisen Jeremias und die leidenschaftlich heraus-
brechende Kraft des jugendlichen Jonas in sich vereinend. Ja noch mehr: die macht-
volle Gestalt des weltenschaffenden Gottvaters scheint in menschliche Fassung gebracht.
Gottvater, hatte er nicht diesen Moses auserlesen, seinen Willen dem Volke zu künden,
hatte er ihm nicht am Berge Sinai seine Gesetze zugeraunt? Der Geist des Herrn
ist in diesem Moses. Er ist voll göttlicher Kraft. Aber wie die Güte des Herrn wunder-
mild ist, so furchtbar ist sein Zorn. Ihn, der soeben noch mit seinem Gotte allein
war, lenken irdische Geräusche ab. Er hört Lärm, das Geschrei von gesungenen
Tanzreigen weckt ihn aus dem Traum. Das Auge, der Kopf wenden sich hin zu dem
Geräusch. Schrecken, Zorn, die ganze Furie wilder Leidenschaften durchfahren im
Moment die Riesengestalt. Er hat das Volk in Anbetung des goldenen Kalbes erblickt.
Alles, selbst die Worte Gottes, die er auf den Tafeln unter dem Arme trägt, vergißt
er in seinem göttlichen Zorn. Die Gesetzestafeln fangen an herabzugleiten, sie werden
zur Erde fallen und zerbrechen, wenn die Gestalt auffährt, um die donnernden Zornes-
worte in die Massen des abtrünnigen Volkes zu schleudern. Schon bäumt sich das
Innere wild auf, die Haare steigen wie Hörner empor — Hörner, die eigentlich die
Lichtstrahlen göttlicher Erkenntnis bedeuten. — Dieser Moment höchster Spannung ist
gewählt. Die wilde Furie, die das Innere wütend durchtobt, bricht da, bricht dort
heraus. Der Sturm hebt an; schon kräuseln sich die Wellen an der Oberfläche, und
bald, ein Moment noch, und der irdische Leib, der noch diese innere Gewalt fesselt,
wird gleich ergriffen davonrasen.
Hier gewaltiger denn je offenbart sich der großartig dramatische Geist Michel-
angelos. Alles Dagewesene und sich selbst hat er übertroffen in der Spannung wilder
Leidenschaften bis zum äußersten tragischen Moment. Aber wo steht dieses höchste
Meisterwerk tragischer Poesie? Nach dem ersten großen Plane sollte die Figur mit sieben
andern gleich gewaltigen Statuen das mittlere Stockwerk des Baues schmücken. Ein-

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