Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Knapp, Fritz
Die künstlerische Kultur des Abendlandes: eine Geschichte der Kunst und der künstlerischen Weltanschauungen seit dem Untergang der Alten Welt (Band 3): Die malerische Problematik der Moderne: vom Klassizismus zum Expressionismus — Bonn, Leipzig: Kurt Schroeder, 1923

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.61744#0088

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
60

,.Chant du Depart“ am Arc de l’Etoile von 1837 gehört zu den lebensvollsten
Plastiken der Zeit; dramatisch bewegter Schwung geht durch die Gestalten,
angespornt durch das Geschrei der fliegenden Kriegsgöttin (Abb. 40). Der
Geist der Revolution von 1789 ist lebendig geworden. Sein Napoleons Er-
wachen zur Unsterblichkeit im Louvre ist eigentümlich still-großartig. Be-
deutend sind auch seine Standbilder, so die Jungfrau von Orleans als Bauern-
mädchen und Moritz von Sachsen im Louvre, endlich sein letztes Werk,
Marschall Ney (1853) in Paris, der äußerst lebendig, den Säbel schwingend,
dasteht. Sehr realistisch ist sein auf der Bahre tot liegender General
Cavaignac auf dem Friedhof Montmartre. Auch Duret sucht sich seine
Typen aus dem Volke, wie seine neapolitanische Tarantellatänzerin (1833)
oder der Improvisator zeigen. Endlich ist Barye dank seiner Motive,
die durchaus dem Tierleben entnommen sind, und die er sorgsamst im Zoo-
logischen Garten studierte, einem lebensvollen Naturalismus nahe gekommen.
In sie legt er die ganze Leidenschaftlichkeit wilder Tiere hinein. Er wäre
darum eigentlich erst in die nächste Gruppe einzuordnen (Abb. 293).
Die Plastik spiegelt so auch den Kampf zwischen Klassizismus und
Naturalismus wieder. Die Individualitäten entwickeln sich in Deutschland
mehr für sich, in Frankreich stehen sie in einem stark akademisch ange-
hauchten Getriebe mitten drinnen, aus dem sie gleichmäßig heraus wachsen.
Wie die Kräfte allmählich ungebundener werden, wie aber gerade die Plastik
sich von ihrem Formideal entfernt und immer wieder der Klassizismus
in mehr und mehr programmatisch-theoretischer Weise dies Formproblem
beleben muß, das werden wir im Kapitel über die moderne Plastik der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehen.

4. Die Wiedergeburt der Malerei in ererbtem
Kolorismus und neuem Naturalismus.
Die großen Erneuerer: Goya, Turner, Constable.
Nicht die Zerstörung der Tradition oder der Wahn, aus der verstandes-
mäßigen, historischen Betrachtung und im Zurückgreifen auf längst-
vergangene Zeiten eine lebendige Kunst schaffen zu wollen, konnte die
künstlerische Kultur, die eben durch Revolution und Klassizismus zerstört
war, wieder aufrichten. Da, wo die Tradition, die Entwicklung abgerissen
war, mußte man wieder neu anknüpfen. Der Geist der Menschheit im
Abendland war aber in einer bestimmten Richtung vorwärtsgegangen, es
 
Annotationen