Das tvahre und das falfche Mittelalter.
(Aus dem Werke des Grafen Montalembert: Die Möncke des
Ab en dland es.)
(Schluß, fiche Nr. 215 u. 216 d. Bl.)
Die Zreibeiien des Mitfclalters ersckeinen zudem heutigen Tages als Pri-
vilegien, tras sckvn genügt, UIN bei Bielcn dercn Lerständniß und Aner-
kennung unmöglick zu machen.
Wahrlich die Mißgeschicke, die Täuschungen, die vielen Flecken, welche
an der modernen Freiheit haften, das alles darf die treue Liebe nicht schwächcn,
welcke fie den Hochherzigen einstößt!
Kein Fehler, kein Unglück dars diejenigen davon lostrennen, die einmal
von Liebe zu ihr entßammt find. Es müffen aber diese Fehler, dieses Un-
glück zur Bescheidenheit und zur Nachficht gegen die nnvollkommenen und be-
schränkten Formen, in denen unsere Väter fie kannten, auffordern. Die
Freiheit war damals nicht als Theorie, als abstractes Princip vorhanden,
anwendbar auf die Menschheit in Maffe, auf alle Völkcr, selbst aufdieienigen,
welche dieselbe jcmals weder gebrauchen können noch wollen. Allein sie war
eine Thatsache und ein Recht sür Viele, für cine größerc Anzahl von Men-
schen als gegenwärtig. Sie war insondcrheit viel leichter zu erobern und
.» bewabrev für alle Solche, die fie zu sckatzen wußten und sie wollten.
Wem thut die Freiheit vor Allem noth? Den Jydividuen und den
Minoritäten. Die Einen, wie die Andercn fanden fie damals innerhalb der
Gränzen, welche die wechselseitige Controlirung der natürlichen oder über-
lieferten Kräste jeder Autorität und souverainen Gewalt seyen muß. Sie
fanden fie ferner und ganz besonders in dcr glücklichen Bielheit jener kleinen
Staaten, jener unabhäugigen Herrschaften, jener Provincial- und Municipal-
Repnbllken, welche von jehcr das Bollwerk der Würde des Menschcn, der
Schauxla^ seincr heilsamsten Thätigkeit gewesen find; wo der mnthvolle,
sahige Burger sür seinen berechtigteii Ehrgeiz die meisten Nusfichtcn hat,
wo er jederzeit weniger verschwindet, weniger unter ein allgemcines Niveau
gebracht werden kanii, als in den großen Staaten.
Zudem war unseren kraftvollen Vorfahren nicht einmal der Begriff einer
unbeschränkten Staatsgewalt bekannt, wie sie heutigen Tages so sehnlich
gewünsckt oder dock so leicht und gleichmüthig angenommen wird. Niemand
unter Lhnen hätte sich gefallen laffen, was man »die nothwendigen Uebel
der unbeschränkten Monarchie" genannt hat. Seitdem ist in der Welt die
Einheit und die absolute Unabhängigkeit der souverainen Gewalt an die
Stelle des Bewußtseins und der Garanticen der persönlichen Unabhängigkeit
gctreten. Um die Glcichheit beffcr erstreben und crreichen zu können, ist
man darauf ausgegangen, alle kleinen Staaten und iede örtlicke Selbst-
ständigkeit zu beseitigen, jcdes Band an die alte Freiheit zu zerreißc». Man
hat jede Solidarität mit den Uebcrlieferungen des Rechts und der Würde,
die letztere gesckaffen hatte, verläugnet. Das absolute Gleickmacken gilt
als ein Fortsckritt, die Gleickheit des Joches wird als einc Bürgschaft für die'
Freiheit betrachtct. Jst doch mit ausdrücklichen Worten gesagt worden, der
Sieg des Despotismus eines Einzigen sci der Bewahrung der Frciheitcn
Vieler vorzuziehen. Man hat einen Herrn gewollt, «m keine Häupter zu
haben; man hat sür die Vernichtung des Rechtes gestimmt, aus Furcht, das
Wiedererstehen dcs Privilegiums erleben zu müssen. Und es ist wirklich ge-
lungen: man hat fich die Gleichheit wie in China erobert; bekannt ist aber
auch, welchen Preis diese Eroberung gekostet hat und was fie den Nationcn,
die fich ibr gefügt haben, noch von Ehre und von Freibeit übrig gelaffen
hat. Rssoxornnt inercöllem Luam, vani vanain.
Trotz alles entgegenstehenden Anscheines nnd der traurige» Lehren der
gegenwärtigen Zeit wvlle Gott uns doch vor der Behauptung bewahren,
daß die Gleichheit unverträglich sei mit der Freiheit; aber bis jetzt ist noch
in keinem der größeren Länder des europäischen Continents das Mittel aus-
gefunden worden, beide auf die Dauer neben einander zu behaupten. Zeigen
wir deßhalb wenigstens einige Nackficht gegen die Epochc, in welcher, ohne
auf die Gleichheit Rücksicht zu nehmen, an die Niemand dachte und die
Niemand verlangte, das Bewußtsein und der Gebrauch der Freiheit lebendig
war, in welcher man sie mehr oder minder mit der Autorität zu vereinbaren
verstanden hat, wie die Verschiedenheit mit der Einheit, wic die tiefe Ach-
tung des persönlichen Rechtes mit der Kraft und mit der Lebensfülle des
Corporations-Geistes.
Was übrigens die Herrschaft der Freiheit im Mittelälter sicherte, war
der cncrgische, männliche Charakter der Jnstitutionen wie der Einzelnen. Es
ist schon bcmerkt worden und man kann es nie genug ans Licht stellcn:
Alles athmet Offenheit, Gesundhcit und Lebea; Alles ist mit Triebkraft und
Jugendmuth ersüllt. Es ist, möchte man sagen, der erste Aufschwung ciner
Ratur, deren ursprüngliche Kraft noch nichts von ihrem Rcize, ihrem Zauber
verloren hat. Ueberall quellen frischc, klare Wafferstrablen empor und rinncn
als Bächlein dabin; fie stoßen in ihrem Laufe aus tausend Hinderniffe, auf
tausend Schwierigkeiten, aber fast immer gelingt cs ihnen, dieselben zu
überwinden und zu beseitigen und die befruchtende Krast ihres Wassers in
weite Fernen zu tragen.
Ein kräftiger Gährungsstoff bcwegt dicse anscheinende Verwirrung.
Das Gute gewinnt die Oberhand durch dic beharrlichen Anstrengungen,
durck die immer erneuerten Opfcr einer Menge von bewundernswurdigen
Seelen. Man findebsie überall und betrachtet sie mit Wonne, diese Seelen,
die fich immer wieder aufs Reue dem Kampfe gegen das Böse, gegen alle
Bedrückungen und Nngerecktigkciten weihen; nntet Mühe und Arbeit wer-
den fie bekannt mit den Triumxhen der sittlichen Kraft, und beharren init
heldenhafter Treue in dem Glauben an die Gcrechtigkeit Gottes, ver oft-
mals so schwer zu bewahren und doch so durchaus nothwendig ist, in der
Erwartung der nur zu selteoen und zu unsicheren Manifestationen dieser
Gerechtigkeit in der Geschichte.
Jn unseren Tagen bat man freilich allc Znstitutionen, alle Arten von
Ueberlegenbeit zcrüört, deren Dau.er und Größe oft mit eincr allzu sckweren
Wuckt auf der Maffe der Menschen gelastet haben mag. Aber welche un-
schätzbare HülfsauelleN für die Kraft und das Glück dcr Bvlker sind nicht
damit gleichzeikig zu nichte gemackt worben! Wie ost ist man nicht ver-
fahren wie jene Thorcn, welche unter dem Vorwand, die Raubvvgel auszu-
rotten, die Wälder aller ihrer gefiederten Bewohner, ihres Gesanges, ihres
Lebens beraubt und die Harmonie der Natur gestört haben! Jhr seid nun,
meint Zhr, von den Adlern glücklick befreit: es mag sein! aber wer be-
freit euch jetzt von den giftigen Jnsekten und dem Schlangengezücht?
Noch cinmal, ich läugne in jener verkannten Bergangenheit weder die
Gewaltrhärigkeiten, noch die Mißbräuche, noch die Berbrechen; man wird es
im Verlaufe meiner Erzählung genugsam erfahren. Jch bestreite keincn
einzige» der wirklichen Vortheile, keineu Fortschritt, keins Wohjjhat, welche
aus der Umbildung der Sitt« und Jseen in der modernen Gesellschaft her-
vorgegangen sind. Es gibt deren unbestreitbare nnd wahrhaft segenbrin-
genve, im Wohlstande der niederen Claffen, in der Milderung der Sitten,
in ver Verwaltung der Gerechtigkeit, in der allgemeincn Sicherheit, in der
Abschayung so vieler empörender Strafgesetze gegen geistliche oder zeitliche
Bergeben, in der erwünschten Ohnmacht des Fanatismus und der rcligiösen
Verfolgung, in den Kriegen, die durchweg menschlick und von kürzerer Dauer
gewvrden siud, in der allgemeineren Achtung der Menschbeitsrechte. Allein
ich fürchte eine verhöltnißmaßige Einbuße an Charakterstärke, an Liebe
zur Freiheit und an echtem Ehrgefühl. Jch glaube, weder die Rechte noch
die Bedürfniffe meiner Zeit zu verkennen. Jch acceptire ohne Vorbehalc
unv ohne bevauernden Rückblick den gesellschaftlichen Zustand, wie er aus
unseren Umwälzungen hervorging und der als Demokratie immer mehr in
der movernen Welt zur Herrschaft gelangen wird. Jch begrüße mit Freudcn
die unschätzbare Crrungcnschaft Ler Gleichbeit Aller vor dem Gcsetze; sie ist
hundertmal kostbarer fur die Dcsseg'ken als für die Sieger, wenn diefclbe
nichr von der Heuchelei zu Gunsten dcs.Vtärkercn confiscirt wird. Als die
politische Freiheit in unserem Lcmdc herrschte, und es den Anschein hatte,
sie werve ssch über ganz Europa verbrciten, da habe ich ihr offen und ehr-
lick gedient und fie eben so gcübt; ich habe sie, Gott Lob, für die Wahr-
heit niemals gefürchtet. Wenn sie je wieder erscheint, so werde ich, weit
cntfernt, etwas von ihr zu fürchtcn, ihre Rückkehr viclmehr segnen. Die
Gewaltigen des Tages belehren uns, sie sei unvcrträglich mit der Demo-
kratie, dem unausweicklichen Gesetze der neueren Zeit, die nur mit der Gleich-
heit und der Autorität lcben und blühen könne. Hoffen wir, daß sie stch
irren! Aber wen» sie Necht hätten, wenn dem so wäre, so fordern wir von
der Demokratie, daß sic die demvkratischen Bölker nicht erschlaffe und ab-
stumpfe, daß sie dieselben nicht unfähig mache, sich selbst zu regieren, zu
vertheidigen, ihre Ehre zu wahren! Hoffen wir, daß, nachdcm sie alle hoch-
ragenden Häupter gleichmäßig erniedrigt, sie es verstehen möge, nicht auch
alle Herzen in knechtische Unterwürfigkeit versinken zu lassen!
Aber während die Stimme der maßlosen Lobhudelei der gefallenen
Menschheit, die das unterscheidende Merkmal einer nur zu großen Anzahl mo-
derner Schriftstellcr geworden ist, mein Ohr trifft, während sie sich in den
Staub niederwerfen vor dern Götzen, in welchem ihre Eitelkcit, so wie die
ibrer Leser sich personificirt, und alle Hülfsmittel eines leichtsinnigen
Enthusiasnius erschöpfen, um ihre Zeitgenoffen mit unreinem Weihrauch zu
betäuben, fühle ick mick von dem Anbliike der Erniedrigung, der Schwäche,
der wachsenden Ohnmacht der Einzelnen als solchcr in der modernen Ge-
sellsckaft traurig ergriffcn. Diese stuinpfsinnige und knechtische Vergötterung
der Weisheit und der Macht der Mayen, droht sie nickt, alle persönliche
Jnitiative und alle krästigc Origiualität zugleich zu ersticken, und damit die
edle Empfindlichkeit der Seele, dcn Sinn und Geist für das öffentliche Leben
zu vernichten? Werden wir nicht verurtheilt werdcn, jede Auszeichnung
wis jede Abstufung, allen Adel wie alle Unabhängigkeit in der überfiuthen-
den und corrumpirenden Knechtschaft verschlmigcir zu sehen, die im Ramen
der Allgewalt der Volkszahl auftritt, und welche die Menschen bis zu dem
Grade erniedrigt, daß sie dieselbe sogar lieben? Gehen nicht Freiheii und
Würde dcs Einzelnen durch dic absolute Gcwalt des Staates, dieses Des-
potcn, ver nie stirbt, und der bcreits überall mil seinem unwiderstehlichpn,
rücksichtslosen Nivcllirungs-Richtscheit auf der gcchneten Fläche über zer-
stäubten Jndividuen hinfahrt, rettungslos zu Grunde?
Und auch außcrhalb der politischen Kreise, wer fühlt sich da nicht be-
troffen, wenu er die jetzige Wclt mit aufmerksamem, theiliiehmendem Blicke
betrachtet, und mitten in der iniposanten Größe ihrer Errungenschaften und
ihrer materiellen Bcfriedigungen d'ie geistige imd fittliche Berarmung wahr-
nehmcn muß? Wer bebt da nicht zurück vor der erdrückenden Monotonie,
vor der unbegränzlcn Langweiligkeit, welche ssch drobcnd als der uuterschei-
dende Charakter dcs kommenden Bikdungs-Zustandes anmeldet? Wer fühlt
nicht, wie die moralischc Sxannkraft der Seelen nnter der Herrschaft der
materiellen Jntereffen täglich mebr erschlafft? Wem bangt es nickt bei der
immer steigenden Znnahmc der Mittelmäßigkeit in den Jdeen wie in den
Werken, in den Menschcn und in den Dingen? Wer sseht m'cht voraus,
daß damit eine Epoche dcr Gemeinheit, der ällgemeinen Schwäche eingeleitet
wird, die um so unhcilbarer sein nniß, als diefe traurige Krankbaftigkeit das
»atürlicke und logische Ergcbniß der Grundsätzc und der Jnstitutionen ist,
in welche blinde Lehrmeistcr die Gcsetze des Fortschrittes einschließen wollen,
wo die Qualität beständig von drr Quantität erdrückt und das Recht stets
der Uebermacht geopfert wird?
Schwäche und Gemeinschaft! Das ist geradedasjenige, was im Mrttel-
alter am allerunbekanntesten war. Es hat seine Laster uud seine Berbrechen
gchabt, fie waren zahlreich und schauderhast, aber Kraft und edler Stol;
haben ihm niemals gefehkt. Jm öffentlichen wie im Privatleben, in der
Welt wie-in der Klosterzclle ist Stärke und Seeleugröße dasjemge, was
Alles durchbricht, und in Uebersülle zeigcn fich große Charaktere, große Zn-
dividuen. Und darin, man beachte es wohl, darin bcsteht der wahre, unbe-
streitbare Borzug des Mittelalters. Es war eine Zeit fruchtbaran Männern:
blagn» psrons virum . . .
Was ist von jeher das Haupthinderniß des Siegcs des Guten und
Wahren aus Erden gcwesen? Sicher liegt es nicht im Wcsen der Gesetze,
der Dogmen, der Opfer, welche der Befitz der Wahrheit fordert oder auf-
erlegt. Suchen wir es vielmehr in Denjenigen, wclche herufen sind, die
Wahrheit zu verkünde», die Tugend lebendig darzufiellen, die Gerechtigkeit
zu vertheidigen; fie waren es, die nur allzu oft hinter ihrer Ausgabe zurück
blieben und, ihrer Sendung untreu, die Generationen, deren Führer und
verantwortliche Bormünder sse find, auf die Wege des Jrrthums oder des
Bösen hinführten. Nein, weder der Glaube noch das Gesetz verschulden es;
(Aus dem Werke des Grafen Montalembert: Die Möncke des
Ab en dland es.)
(Schluß, fiche Nr. 215 u. 216 d. Bl.)
Die Zreibeiien des Mitfclalters ersckeinen zudem heutigen Tages als Pri-
vilegien, tras sckvn genügt, UIN bei Bielcn dercn Lerständniß und Aner-
kennung unmöglick zu machen.
Wahrlich die Mißgeschicke, die Täuschungen, die vielen Flecken, welche
an der modernen Freiheit haften, das alles darf die treue Liebe nicht schwächcn,
welcke fie den Hochherzigen einstößt!
Kein Fehler, kein Unglück dars diejenigen davon lostrennen, die einmal
von Liebe zu ihr entßammt find. Es müffen aber diese Fehler, dieses Un-
glück zur Bescheidenheit und zur Nachficht gegen die nnvollkommenen und be-
schränkten Formen, in denen unsere Väter fie kannten, auffordern. Die
Freiheit war damals nicht als Theorie, als abstractes Princip vorhanden,
anwendbar auf die Menschheit in Maffe, auf alle Völkcr, selbst aufdieienigen,
welche dieselbe jcmals weder gebrauchen können noch wollen. Allein sie war
eine Thatsache und ein Recht sür Viele, für cine größerc Anzahl von Men-
schen als gegenwärtig. Sie war insondcrheit viel leichter zu erobern und
.» bewabrev für alle Solche, die fie zu sckatzen wußten und sie wollten.
Wem thut die Freiheit vor Allem noth? Den Jydividuen und den
Minoritäten. Die Einen, wie die Andercn fanden fie damals innerhalb der
Gränzen, welche die wechselseitige Controlirung der natürlichen oder über-
lieferten Kräste jeder Autorität und souverainen Gewalt seyen muß. Sie
fanden fie ferner und ganz besonders in dcr glücklichen Bielheit jener kleinen
Staaten, jener unabhäugigen Herrschaften, jener Provincial- und Municipal-
Repnbllken, welche von jehcr das Bollwerk der Würde des Menschcn, der
Schauxla^ seincr heilsamsten Thätigkeit gewesen find; wo der mnthvolle,
sahige Burger sür seinen berechtigteii Ehrgeiz die meisten Nusfichtcn hat,
wo er jederzeit weniger verschwindet, weniger unter ein allgemcines Niveau
gebracht werden kanii, als in den großen Staaten.
Zudem war unseren kraftvollen Vorfahren nicht einmal der Begriff einer
unbeschränkten Staatsgewalt bekannt, wie sie heutigen Tages so sehnlich
gewünsckt oder dock so leicht und gleichmüthig angenommen wird. Niemand
unter Lhnen hätte sich gefallen laffen, was man »die nothwendigen Uebel
der unbeschränkten Monarchie" genannt hat. Seitdem ist in der Welt die
Einheit und die absolute Unabhängigkeit der souverainen Gewalt an die
Stelle des Bewußtseins und der Garanticen der persönlichen Unabhängigkeit
gctreten. Um die Glcichheit beffcr erstreben und crreichen zu können, ist
man darauf ausgegangen, alle kleinen Staaten und iede örtlicke Selbst-
ständigkeit zu beseitigen, jcdes Band an die alte Freiheit zu zerreißc». Man
hat jede Solidarität mit den Uebcrlieferungen des Rechts und der Würde,
die letztere gesckaffen hatte, verläugnet. Das absolute Gleickmacken gilt
als ein Fortsckritt, die Gleickheit des Joches wird als einc Bürgschaft für die'
Freiheit betrachtct. Jst doch mit ausdrücklichen Worten gesagt worden, der
Sieg des Despotismus eines Einzigen sci der Bewahrung der Frciheitcn
Vieler vorzuziehen. Man hat einen Herrn gewollt, «m keine Häupter zu
haben; man hat sür die Vernichtung des Rechtes gestimmt, aus Furcht, das
Wiedererstehen dcs Privilegiums erleben zu müssen. Und es ist wirklich ge-
lungen: man hat fich die Gleichheit wie in China erobert; bekannt ist aber
auch, welchen Preis diese Eroberung gekostet hat und was fie den Nationcn,
die fich ibr gefügt haben, noch von Ehre und von Freibeit übrig gelaffen
hat. Rssoxornnt inercöllem Luam, vani vanain.
Trotz alles entgegenstehenden Anscheines nnd der traurige» Lehren der
gegenwärtigen Zeit wvlle Gott uns doch vor der Behauptung bewahren,
daß die Gleichheit unverträglich sei mit der Freiheit; aber bis jetzt ist noch
in keinem der größeren Länder des europäischen Continents das Mittel aus-
gefunden worden, beide auf die Dauer neben einander zu behaupten. Zeigen
wir deßhalb wenigstens einige Nackficht gegen die Epochc, in welcher, ohne
auf die Gleichheit Rücksicht zu nehmen, an die Niemand dachte und die
Niemand verlangte, das Bewußtsein und der Gebrauch der Freiheit lebendig
war, in welcher man sie mehr oder minder mit der Autorität zu vereinbaren
verstanden hat, wie die Verschiedenheit mit der Einheit, wic die tiefe Ach-
tung des persönlichen Rechtes mit der Kraft und mit der Lebensfülle des
Corporations-Geistes.
Was übrigens die Herrschaft der Freiheit im Mittelälter sicherte, war
der cncrgische, männliche Charakter der Jnstitutionen wie der Einzelnen. Es
ist schon bcmerkt worden und man kann es nie genug ans Licht stellcn:
Alles athmet Offenheit, Gesundhcit und Lebea; Alles ist mit Triebkraft und
Jugendmuth ersüllt. Es ist, möchte man sagen, der erste Aufschwung ciner
Ratur, deren ursprüngliche Kraft noch nichts von ihrem Rcize, ihrem Zauber
verloren hat. Ueberall quellen frischc, klare Wafferstrablen empor und rinncn
als Bächlein dabin; fie stoßen in ihrem Laufe aus tausend Hinderniffe, auf
tausend Schwierigkeiten, aber fast immer gelingt cs ihnen, dieselben zu
überwinden und zu beseitigen und die befruchtende Krast ihres Wassers in
weite Fernen zu tragen.
Ein kräftiger Gährungsstoff bcwegt dicse anscheinende Verwirrung.
Das Gute gewinnt die Oberhand durch dic beharrlichen Anstrengungen,
durck die immer erneuerten Opfcr einer Menge von bewundernswurdigen
Seelen. Man findebsie überall und betrachtet sie mit Wonne, diese Seelen,
die fich immer wieder aufs Reue dem Kampfe gegen das Böse, gegen alle
Bedrückungen und Nngerecktigkciten weihen; nntet Mühe und Arbeit wer-
den fie bekannt mit den Triumxhen der sittlichen Kraft, und beharren init
heldenhafter Treue in dem Glauben an die Gcrechtigkeit Gottes, ver oft-
mals so schwer zu bewahren und doch so durchaus nothwendig ist, in der
Erwartung der nur zu selteoen und zu unsicheren Manifestationen dieser
Gerechtigkeit in der Geschichte.
Jn unseren Tagen bat man freilich allc Znstitutionen, alle Arten von
Ueberlegenbeit zcrüört, deren Dau.er und Größe oft mit eincr allzu sckweren
Wuckt auf der Maffe der Menschen gelastet haben mag. Aber welche un-
schätzbare HülfsauelleN für die Kraft und das Glück dcr Bvlker sind nicht
damit gleichzeikig zu nichte gemackt worben! Wie ost ist man nicht ver-
fahren wie jene Thorcn, welche unter dem Vorwand, die Raubvvgel auszu-
rotten, die Wälder aller ihrer gefiederten Bewohner, ihres Gesanges, ihres
Lebens beraubt und die Harmonie der Natur gestört haben! Jhr seid nun,
meint Zhr, von den Adlern glücklick befreit: es mag sein! aber wer be-
freit euch jetzt von den giftigen Jnsekten und dem Schlangengezücht?
Noch cinmal, ich läugne in jener verkannten Bergangenheit weder die
Gewaltrhärigkeiten, noch die Mißbräuche, noch die Berbrechen; man wird es
im Verlaufe meiner Erzählung genugsam erfahren. Jch bestreite keincn
einzige» der wirklichen Vortheile, keineu Fortschritt, keins Wohjjhat, welche
aus der Umbildung der Sitt« und Jseen in der modernen Gesellschaft her-
vorgegangen sind. Es gibt deren unbestreitbare nnd wahrhaft segenbrin-
genve, im Wohlstande der niederen Claffen, in der Milderung der Sitten,
in ver Verwaltung der Gerechtigkeit, in der allgemeincn Sicherheit, in der
Abschayung so vieler empörender Strafgesetze gegen geistliche oder zeitliche
Bergeben, in der erwünschten Ohnmacht des Fanatismus und der rcligiösen
Verfolgung, in den Kriegen, die durchweg menschlick und von kürzerer Dauer
gewvrden siud, in der allgemeineren Achtung der Menschbeitsrechte. Allein
ich fürchte eine verhöltnißmaßige Einbuße an Charakterstärke, an Liebe
zur Freiheit und an echtem Ehrgefühl. Jch glaube, weder die Rechte noch
die Bedürfniffe meiner Zeit zu verkennen. Jch acceptire ohne Vorbehalc
unv ohne bevauernden Rückblick den gesellschaftlichen Zustand, wie er aus
unseren Umwälzungen hervorging und der als Demokratie immer mehr in
der movernen Welt zur Herrschaft gelangen wird. Jch begrüße mit Freudcn
die unschätzbare Crrungcnschaft Ler Gleichbeit Aller vor dem Gcsetze; sie ist
hundertmal kostbarer fur die Dcsseg'ken als für die Sieger, wenn diefclbe
nichr von der Heuchelei zu Gunsten dcs.Vtärkercn confiscirt wird. Als die
politische Freiheit in unserem Lcmdc herrschte, und es den Anschein hatte,
sie werve ssch über ganz Europa verbrciten, da habe ich ihr offen und ehr-
lick gedient und fie eben so gcübt; ich habe sie, Gott Lob, für die Wahr-
heit niemals gefürchtet. Wenn sie je wieder erscheint, so werde ich, weit
cntfernt, etwas von ihr zu fürchtcn, ihre Rückkehr viclmehr segnen. Die
Gewaltigen des Tages belehren uns, sie sei unvcrträglich mit der Demo-
kratie, dem unausweicklichen Gesetze der neueren Zeit, die nur mit der Gleich-
heit und der Autorität lcben und blühen könne. Hoffen wir, daß sie stch
irren! Aber wen» sie Necht hätten, wenn dem so wäre, so fordern wir von
der Demokratie, daß sic die demvkratischen Bölker nicht erschlaffe und ab-
stumpfe, daß sie dieselben nicht unfähig mache, sich selbst zu regieren, zu
vertheidigen, ihre Ehre zu wahren! Hoffen wir, daß, nachdcm sie alle hoch-
ragenden Häupter gleichmäßig erniedrigt, sie es verstehen möge, nicht auch
alle Herzen in knechtische Unterwürfigkeit versinken zu lassen!
Aber während die Stimme der maßlosen Lobhudelei der gefallenen
Menschheit, die das unterscheidende Merkmal einer nur zu großen Anzahl mo-
derner Schriftstellcr geworden ist, mein Ohr trifft, während sie sich in den
Staub niederwerfen vor dern Götzen, in welchem ihre Eitelkcit, so wie die
ibrer Leser sich personificirt, und alle Hülfsmittel eines leichtsinnigen
Enthusiasnius erschöpfen, um ihre Zeitgenoffen mit unreinem Weihrauch zu
betäuben, fühle ick mick von dem Anbliike der Erniedrigung, der Schwäche,
der wachsenden Ohnmacht der Einzelnen als solchcr in der modernen Ge-
sellsckaft traurig ergriffcn. Diese stuinpfsinnige und knechtische Vergötterung
der Weisheit und der Macht der Mayen, droht sie nickt, alle persönliche
Jnitiative und alle krästigc Origiualität zugleich zu ersticken, und damit die
edle Empfindlichkeit der Seele, dcn Sinn und Geist für das öffentliche Leben
zu vernichten? Werden wir nicht verurtheilt werdcn, jede Auszeichnung
wis jede Abstufung, allen Adel wie alle Unabhängigkeit in der überfiuthen-
den und corrumpirenden Knechtschaft verschlmigcir zu sehen, die im Ramen
der Allgewalt der Volkszahl auftritt, und welche die Menschen bis zu dem
Grade erniedrigt, daß sie dieselbe sogar lieben? Gehen nicht Freiheii und
Würde dcs Einzelnen durch dic absolute Gcwalt des Staates, dieses Des-
potcn, ver nie stirbt, und der bcreits überall mil seinem unwiderstehlichpn,
rücksichtslosen Nivcllirungs-Richtscheit auf der gcchneten Fläche über zer-
stäubten Jndividuen hinfahrt, rettungslos zu Grunde?
Und auch außcrhalb der politischen Kreise, wer fühlt sich da nicht be-
troffen, wenu er die jetzige Wclt mit aufmerksamem, theiliiehmendem Blicke
betrachtet, und mitten in der iniposanten Größe ihrer Errungenschaften und
ihrer materiellen Bcfriedigungen d'ie geistige imd fittliche Berarmung wahr-
nehmcn muß? Wer bebt da nicht zurück vor der erdrückenden Monotonie,
vor der unbegränzlcn Langweiligkeit, welche ssch drobcnd als der uuterschei-
dende Charakter dcs kommenden Bikdungs-Zustandes anmeldet? Wer fühlt
nicht, wie die moralischc Sxannkraft der Seelen nnter der Herrschaft der
materiellen Jntereffen täglich mebr erschlafft? Wem bangt es nickt bei der
immer steigenden Znnahmc der Mittelmäßigkeit in den Jdeen wie in den
Werken, in den Menschcn und in den Dingen? Wer sseht m'cht voraus,
daß damit eine Epoche dcr Gemeinheit, der ällgemeinen Schwäche eingeleitet
wird, die um so unhcilbarer sein nniß, als diefe traurige Krankbaftigkeit das
»atürlicke und logische Ergcbniß der Grundsätzc und der Jnstitutionen ist,
in welche blinde Lehrmeistcr die Gcsetze des Fortschrittes einschließen wollen,
wo die Qualität beständig von drr Quantität erdrückt und das Recht stets
der Uebermacht geopfert wird?
Schwäche und Gemeinschaft! Das ist geradedasjenige, was im Mrttel-
alter am allerunbekanntesten war. Es hat seine Laster uud seine Berbrechen
gchabt, fie waren zahlreich und schauderhast, aber Kraft und edler Stol;
haben ihm niemals gefehkt. Jm öffentlichen wie im Privatleben, in der
Welt wie-in der Klosterzclle ist Stärke und Seeleugröße dasjemge, was
Alles durchbricht, und in Uebersülle zeigcn fich große Charaktere, große Zn-
dividuen. Und darin, man beachte es wohl, darin bcsteht der wahre, unbe-
streitbare Borzug des Mittelalters. Es war eine Zeit fruchtbaran Männern:
blagn» psrons virum . . .
Was ist von jeher das Haupthinderniß des Siegcs des Guten und
Wahren aus Erden gcwesen? Sicher liegt es nicht im Wcsen der Gesetze,
der Dogmen, der Opfer, welche der Befitz der Wahrheit fordert oder auf-
erlegt. Suchen wir es vielmehr in Denjenigen, wclche herufen sind, die
Wahrheit zu verkünde», die Tugend lebendig darzufiellen, die Gerechtigkeit
zu vertheidigen; fie waren es, die nur allzu oft hinter ihrer Ausgabe zurück
blieben und, ihrer Sendung untreu, die Generationen, deren Führer und
verantwortliche Bormünder sse find, auf die Wege des Jrrthums oder des
Bösen hinführten. Nein, weder der Glaube noch das Gesetz verschulden es;