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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 8.1931

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Nr. 3 (März)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43624#0161
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Klassen, lernt den eben beginnenden Naturalismus kennen und
empfängt den ersten ganz tiefen Eindruck von den Russen Tolstoi
und Dostojewski, Schriftstellerische Tätigkeit für sozialdemo-
kratische Zeitungen ist die erste — politische — Reaktion des zum
Schaffen bestimmten jungen Mannes, Kunst gilt ihm unter solchen
Umständen als unsittlich; jener Komplex Kunst-Religion-Sittlichkeit,
um den später sein ganzes Werk kreisen sollte, tritt erst nach
Jahren in den Bereich seiner Betrachtungen, Ganz allmählich aber
gelangt Ernst in diesem ersten Jahrzehnt seines Wirkens von der
aktiven politischen Anteilnahme zur objektiven historischen Wer-
tung, Und am Ende, als er eben scheinbar restlos in soziologische
Arbeiten verstrickt ist, lösen sich mit fast zerstörender Gewalt all
diese Umpanzerungen, die ein allzu empfindliches Gewissen oder
vielleicht ein zu jugendliches Herz sich als Schutz geschaffen haben.
Im „Credo“ in dem Aufsatz „Was sollen wir tun?“ findet diese
Loslösung nachträglich einen Niederschlag,
Damit war zwar eine Seele frei geworden, aber sie stand zugleich
vor einer weglosen, unbekannten Zukunft, In der Vergangenheit
war nichts, was Licht und Weisung geben konnte. Es beginnt die
Zeit, in der sich der schaffende Künstler, Ring an Ring fügend,
neue Hüllen schuf, dauerndere: denn die neue Umfriedigung, die
seine Seele fand, war das Werk, die Form.
Übergehen wir die ersten Versuche, die Ernst mit Arno Holz
zusammenführten. Um 1897 war er ein verspäteter Naturalist, den
diese Bewegung schon nicht mehr zu tragen vermochte. Noch der
in einzelnen Teilen wundervolle, an Kellers „Grünen Heinrich“ in
Motiv und Entstehungsgrund gemahnende „schmale Weg zum
Glück“ vermag die sozialen Themen des Naturalismus nicht beiseite-
zuschieben. In diesem Roman aber ringt sich auch zugleich der
Dichter frei von der Vergangenheit. Wenn der Held, ein Förster-
sohn aus dem Harz, der in Berlin studiert und dort das gleiche
Geschick erleidet wie sein Dichter selbst, endlich nach langem
Irren das Glück nicht im sozialen Mitleid, sondern ganz schlicht in
einer „einfachen und vernünftigen Aufgabe“ findet, wo er sieht,
daß „die Menschen so leben, wie es ihnen vorgeschrieben ist, und
solche Gedanken haben, wie Gott will, daß sie Gedanken haben“,
so erlebt man, wie auch Ernst jetzt zur Ruhe gekommen ist.
Nicht zu einer Ruhe, die Ermattung bedeutet. Wir empfinden
den „schmalen Weg zum Glück“ zwar als das Abschließen einer
bewegten und doch im letzten Grunde nicht befriedigenden Ver-
gangenheit; aber dennoch hatte Ernst, schon bevor er an
diesen Roman ging, das für die Zukunft entscheidende Erlebnis:
Italien. Und zwrar war es nicht die auf den „Klassizisten“ not-
wendig wirkende italienische Renaissance, die seinem Innern hier
begegnete, sondern Giotto. Giotto ist der erste Dramatiker der
christlichen Welt, und so trifft das, was der heutige Dramatiker
an dem alten erfährt, gleich in den Kern beider Persönlichkeiten.

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