Jahres verlesen zu lassen (Lectio continua). Dafür
wurde anfangs wohl das Buch mit den vier Evange-
lien benutzt, das Evangeliar (vgl. Abb. 12, 25, 32,
42, 48). Später wurde es im Ritus von kalendarisch
angeordneten Lesebüchern zurückgedrängt, zu-
nächst vom Perikopenbuch (oder Evangelistar)
(vgl. Abb. 1, 3, 28, 34-39) und dann vom Missale
(vgl. S.57 und Abb. 18, 61-64), das alle Texte der
Messe enthält.
Zudem nahm man nach jüdischem Vorbild das
Buch mit den Gesängen und Gebeten aus dem Al-
ten Testament, nämlich die Psalmen, als Grundla-
ge für das gemeinsame Gotteslob (vgl. S. 100). Der
Psalter ist dann nicht nur das Gesangbuch für den
monastischen Gottesdienst schlechthin geblieben,
sondern lange auch das archetypische Gebetbuch
für die private Andacht (vgl. Abb. 2, 51-53, 57-59).
Am Übergang von der Spätantike zum Mittelal-
ter sind die Gebete des Priesters für die zentrale
Kultfeier des Christentums, die Messe, festgelegt
und zunächst im Sakramentar zusammengefasst
worden (vgl. Abb.40-41, 46-47), ab dem hohen
Mittelalter ins Missale aufgenommen worden. Mit
dem Sakramentar nahm damit ein weiteres Buch in
der christlichen Religion einen besonderen sakralen
Rang ein.
Es kann dann nicht erstaunen, dass das Evange-
lienbuch schon ab der Spätantike im Inneren wie
am Äußeren geschmückt werden konnte, als sei es
der König der Welt - den es eben auch vertrat. Auf
dem Buchdeckel eines Evangelienbuches, der von
einem irdischen König, nämlich Heinrichll.
(1002-1024), gestiftet worden ist (Abb. 1), finden
wir in der Mitte eine äußerst wertvolle Elfenbein-
schnitzerei und auf den goldenen Randstreifen eine
Vielzahl von Perlen und Edelsteinen sowie eine
Reihe kostbarer Emails verschiedener Herkunft. In
der lateinischen Umschrift stellt der Stifter selbst
dieses Buch auf die Stufe eines Königs: „Der König
Heinrich schmückt die perfekte Lehre mit der Kro-
ne." Wir sehen hier zudem auf den Emailarbeiten,
dass das Buch zum Abzeichen der Heiligkeit und
der Rechtgläubigkeit geworden ist. Oben hält Chris-
tus auf einem byzantinischen Email einen edel-
steinverzierten Codex in der Hand; seine Apostel
sind ebenfalls alle mit dem Codex oder aber der al-
tertümlichen Rolle dargestellt. Die Rolle, die im
Mittelalter in Form des mit quer zur Rollrichtung
angelegten Zeilen beschriebenen Rotulus noch eine
Nischenexistenz führte, erscheint manchmal als alt-
ehrwürdiges Symbol für das göttliche Wort; so etwa
in der Hand Christi im Hildesheimer Psalter in
Darmstadt (Abb.2). Und wie selbstverständlich
tragen auf dem Buchdeckel auch die vier apokalyp-
tischen Wesen auf den vier abendländischen Emails
Bücher in ihren Händen, Hufen oder Krallen, ob-
wohl in der Offenbarung des Johannes davon keine
Rede ist. Sie sind als die Symbole der vier Evange-
listen verstanden, deren Kennzeichen selbstver-
ständlich das Buch ist. In der Antike zeichnete die
Buchrolle auf Bildern gelegentlich den Philosophen
aus, im Mittelalter ist das Buch das vornehmste At-
tribut aller Heiligen, ungeachtet ob sie Apostel,
Märtyrer oder Prediger sind.
Die christliche Haltung gegenüber dem Buch
hat aber anscheinend seinen alltäglichen Gebrauch
verändert. Der vornehme Römer las nur ausnahms-
weise selbst; gewöhnlich ließ er sich von einem
Sklaven vorlesen. Das Vorlesen ist auch danach
nicht außer Gebrauch gekommen und insbesonde-
re bei der klösterlichen Tischlesung sowie beim Li-
teraturvortrag bei Hofe gepflegt worden. Doch nun
war es Aufgabe des Christen geworden, das neue
Gesetz zu kennen und seine Geheimnisse zu durch-
gründen. Es ist wahr, dass das langfristig nicht zu
einem Studium der Schriften durch breite Schichten
geführt hat. Aber es hat bestimmte Gruppen, die zu
den Trägern der Bildung im Mittelalter gehören
sollten, insbesondere Kleriker, Mönche und from-
me Frauen, in einen engen Bezug zum Buch ge-
bracht. Die Verständigung über das geschriebene
Wort erfolgte weiterhin nicht unbedingt in einer
stillen Lektüre, sondern oft laut und im Zwiege-
spräch; doch die Delegation an einen untergebenen
Vorleser scheint dafür nicht mehr der beste Weg.
Auch diese Veränderung kommt der Buchmalerei
entgegen: Wer sich selbst über ein Buch beugt, um
es zu studieren, wird erst anfangen, darin vorhan-
dene Bilder zu betrachten.
Natürlich hat sich die Rolle des Buches im Ver-
lauf des Mittelalters in mancher Hinsicht gewan-
delt. Ab etwa dem 12. Jahrhundert beginnt zum
Beispiel der Anteil der profanen volkssprachigen
Literatur an der Bücherproduktion zu wachsen.
Gesellschaft und Religiosität differenzieren sich in
den jungen Städten, den verschiedenen Orden und
konkurrierenden Fürstenhöfen immer mehr aus.
Ab da befinden sich immer mehr Bücher im Besitz
von Laien. Diese Entwicklungen verändern selbst-
verständlich die Rolle des Buches und der Buchma-
lerei. Dennoch erhält sich eine kulturell, ja religiös
vorgeformte Wertschätzung für das auch materiell
wertvolle Buch, die für die Buchmalerei weiterhin
einen fruchtbaren Boden bildet.
11 1. Äußere Form
und kulturelle
Funktion
wurde anfangs wohl das Buch mit den vier Evange-
lien benutzt, das Evangeliar (vgl. Abb. 12, 25, 32,
42, 48). Später wurde es im Ritus von kalendarisch
angeordneten Lesebüchern zurückgedrängt, zu-
nächst vom Perikopenbuch (oder Evangelistar)
(vgl. Abb. 1, 3, 28, 34-39) und dann vom Missale
(vgl. S.57 und Abb. 18, 61-64), das alle Texte der
Messe enthält.
Zudem nahm man nach jüdischem Vorbild das
Buch mit den Gesängen und Gebeten aus dem Al-
ten Testament, nämlich die Psalmen, als Grundla-
ge für das gemeinsame Gotteslob (vgl. S. 100). Der
Psalter ist dann nicht nur das Gesangbuch für den
monastischen Gottesdienst schlechthin geblieben,
sondern lange auch das archetypische Gebetbuch
für die private Andacht (vgl. Abb. 2, 51-53, 57-59).
Am Übergang von der Spätantike zum Mittelal-
ter sind die Gebete des Priesters für die zentrale
Kultfeier des Christentums, die Messe, festgelegt
und zunächst im Sakramentar zusammengefasst
worden (vgl. Abb.40-41, 46-47), ab dem hohen
Mittelalter ins Missale aufgenommen worden. Mit
dem Sakramentar nahm damit ein weiteres Buch in
der christlichen Religion einen besonderen sakralen
Rang ein.
Es kann dann nicht erstaunen, dass das Evange-
lienbuch schon ab der Spätantike im Inneren wie
am Äußeren geschmückt werden konnte, als sei es
der König der Welt - den es eben auch vertrat. Auf
dem Buchdeckel eines Evangelienbuches, der von
einem irdischen König, nämlich Heinrichll.
(1002-1024), gestiftet worden ist (Abb. 1), finden
wir in der Mitte eine äußerst wertvolle Elfenbein-
schnitzerei und auf den goldenen Randstreifen eine
Vielzahl von Perlen und Edelsteinen sowie eine
Reihe kostbarer Emails verschiedener Herkunft. In
der lateinischen Umschrift stellt der Stifter selbst
dieses Buch auf die Stufe eines Königs: „Der König
Heinrich schmückt die perfekte Lehre mit der Kro-
ne." Wir sehen hier zudem auf den Emailarbeiten,
dass das Buch zum Abzeichen der Heiligkeit und
der Rechtgläubigkeit geworden ist. Oben hält Chris-
tus auf einem byzantinischen Email einen edel-
steinverzierten Codex in der Hand; seine Apostel
sind ebenfalls alle mit dem Codex oder aber der al-
tertümlichen Rolle dargestellt. Die Rolle, die im
Mittelalter in Form des mit quer zur Rollrichtung
angelegten Zeilen beschriebenen Rotulus noch eine
Nischenexistenz führte, erscheint manchmal als alt-
ehrwürdiges Symbol für das göttliche Wort; so etwa
in der Hand Christi im Hildesheimer Psalter in
Darmstadt (Abb.2). Und wie selbstverständlich
tragen auf dem Buchdeckel auch die vier apokalyp-
tischen Wesen auf den vier abendländischen Emails
Bücher in ihren Händen, Hufen oder Krallen, ob-
wohl in der Offenbarung des Johannes davon keine
Rede ist. Sie sind als die Symbole der vier Evange-
listen verstanden, deren Kennzeichen selbstver-
ständlich das Buch ist. In der Antike zeichnete die
Buchrolle auf Bildern gelegentlich den Philosophen
aus, im Mittelalter ist das Buch das vornehmste At-
tribut aller Heiligen, ungeachtet ob sie Apostel,
Märtyrer oder Prediger sind.
Die christliche Haltung gegenüber dem Buch
hat aber anscheinend seinen alltäglichen Gebrauch
verändert. Der vornehme Römer las nur ausnahms-
weise selbst; gewöhnlich ließ er sich von einem
Sklaven vorlesen. Das Vorlesen ist auch danach
nicht außer Gebrauch gekommen und insbesonde-
re bei der klösterlichen Tischlesung sowie beim Li-
teraturvortrag bei Hofe gepflegt worden. Doch nun
war es Aufgabe des Christen geworden, das neue
Gesetz zu kennen und seine Geheimnisse zu durch-
gründen. Es ist wahr, dass das langfristig nicht zu
einem Studium der Schriften durch breite Schichten
geführt hat. Aber es hat bestimmte Gruppen, die zu
den Trägern der Bildung im Mittelalter gehören
sollten, insbesondere Kleriker, Mönche und from-
me Frauen, in einen engen Bezug zum Buch ge-
bracht. Die Verständigung über das geschriebene
Wort erfolgte weiterhin nicht unbedingt in einer
stillen Lektüre, sondern oft laut und im Zwiege-
spräch; doch die Delegation an einen untergebenen
Vorleser scheint dafür nicht mehr der beste Weg.
Auch diese Veränderung kommt der Buchmalerei
entgegen: Wer sich selbst über ein Buch beugt, um
es zu studieren, wird erst anfangen, darin vorhan-
dene Bilder zu betrachten.
Natürlich hat sich die Rolle des Buches im Ver-
lauf des Mittelalters in mancher Hinsicht gewan-
delt. Ab etwa dem 12. Jahrhundert beginnt zum
Beispiel der Anteil der profanen volkssprachigen
Literatur an der Bücherproduktion zu wachsen.
Gesellschaft und Religiosität differenzieren sich in
den jungen Städten, den verschiedenen Orden und
konkurrierenden Fürstenhöfen immer mehr aus.
Ab da befinden sich immer mehr Bücher im Besitz
von Laien. Diese Entwicklungen verändern selbst-
verständlich die Rolle des Buches und der Buchma-
lerei. Dennoch erhält sich eine kulturell, ja religiös
vorgeformte Wertschätzung für das auch materiell
wertvolle Buch, die für die Buchmalerei weiterhin
einen fruchtbaren Boden bildet.
11 1. Äußere Form
und kulturelle
Funktion