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Krystall, Bronisław
Wie ist Kunstgeschichte als Wissenschaft möglich?: ein kritischer Versuch — Bern, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.69882#0019
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da ja auch das Problem des Ästhetischen nichts anderes ist
als ein Spezialproblem der Erkenntnis. Endlich sei noch
darauf hingewiesen, daß die grundlegende Bedeutung der
kritischen Ästhetik für die Kunstwissenschaften von Kant nicht
erfaßt wurde.1) Das ästhetische Bewußtsein kommt also als
eine neue, besondere Richtung des wissenschaftlichen Bewußt-
seins bei Kant nicht in dem Maße zum Ausdruck, wie manche
Interpreten es haben wollen, da man vor allem das einheit-
liche Objekt, auf welches die ästhetische Erkenntnis ur-
sprünglich Bezug nehmen müßte, durchwegs vermißt. Infolge
der Tatsache aber, daß die Ästhetik Kants keineswegs an die
Erfahrung, vor allem nicht in dem Sinne, wie diese von ihm
verstanden wird, anknüpft, ist es begreiflich, daß man seine
Ästhetik als formalistische kennzeichnet. Ganz ungerechtfertigt
aber ist es, wenn man sie mit der kritischen Ästhetik über-
haupt identifiziert. Wie muß aber dieser Anknüpfungspunkt
an die Erfahrung gewonnen werden? Volkelt, dessen psycho-
logischer Standpunkt sichtlich kritisch gefärbt ist, versucht den
Ausgangspunkt für seine „Ästhetik des Tragischen“ daraus zu
gewinnen, daß derselbe nach ihm eine Erfahrungstatsache sein
muß, allerdings „ausschließlich seelischer Natur“. Aus seiner
Stellungnahme zum Kunstgegenstande geht eben ohne weiteres
hervor, daß man das Kunstwerk keineswegs mit „vollem
Ernst“ als einen objektiven Ausgangspunkt ansehen kann.
So besteht nach ihm die Erfahrungsgrundlage der Ästhetik

*) Indem Kant behauptet: „Es gibt weder eine Wissenschaft des
Schönen, sondern nur Kritik, noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne
Kunst“ (K. d. U., Originalausgabe S. 177), ferner, daß „das Urteil über
Schönheit .. ., wenn es zur Wissenschaft gehörte, kein Geschmacksurteil
sein würde“ (ibid.), und daraus schließt, daß es keine Wissenschaft des
Schönen geben könne, weil Urteile über das Schöne Geschmacksurteile
sein müssen“, so wird von ihm dadurch, wenn auch nur indirekt, die
Möglichkeit der Kunstwissenschaft in Abrede gestellt. Diese Konsequenz
aber wird hinfällig, wenn man im Gegensätze zu Kant annimmt, daß die
ästhetischen Urteile in erster Linie Erkenntnisse von Gestaltungsprinzipien
und Gesetzen, nicht aber Geschmacksurteile sind. Die Möglichkeit der
Erkenntnis des Schönen ist also nicht ausgeschlossen, weil es Wissen-
schaften der Gestaltung, die Kunstwissenschaften, gibt, in welchen Erkennt-
nisse enthalten sind, an welchen die Ästhetik transzendental interessiert
ist und ohne welche sie bestenfalls formalistisch bleiben müfste.
 
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