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Die Kunst dem Volke <München> — 1924 (Nr. 13 Nachdruck)

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Waal, Anton de: Ein Besuch im Vatikan
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so oft seit meiner Kindheit gehört und gelesen
und geträumt, der Wunsch meines Lebens, er
ist erfüllt: — Gott sei gedankt, aus innigster
Seele gedankt! Wie mächtig hatte es mich er-
griffen, als ich gestern abend den Fuß auf den
klassischen Boden der ewigen Roma setzte; was
sollten die nächsten Tage mir noch an unvergleich-
lich Großem, an unvergeßlichen Eindrücken brin-
gen, weit hinaus über alle Vorstellungen, die sich
die kühnste Phantasie vorgemalt haben mochte! —
Jn der Mitte der weiten Ruude des Petersplatzes
erhebt sich der aus einem einzigen Granitblock
Ägyptens gehauene Obelisk, der einst im Zirkus
des Nero stand, der danu nach anderthalbtausend
Jahren an seine jetzige Stelle wanderte, auf
seiner Spitze das Kreuz und auf seinem Granit-
sockel die Jnschrist OMlLI'VZ VMOI1H
Christus siegt, der dort stehen wird als wun-
derbarer Meilenstein an der Jahrhundertstraße der
Weltgeschichte, um unzählige Geschlechter nach-
einander an seinem Fuße vorüberziehen zu sehen,
bis das Erdbeben des Jüngsten Tages die Kup-
pel von Sankt Peter einstürzt und auch den Obe-
lisken umwirft, — Rechts und links von ihm

Abb, 11 (Text S, 13)

Naffael, Ornamentale Dekoration aus den Loggicn

schleudern gewaltige Springbrunnen unermüd-
lich Tag und Nacht ihre rauschenden Wasser-
garben in die Höhe (Abb, 3), das Sinnbild der
Gnadenströme, welche die beiden Apostelfürsten,
deren marmorne Statuen am Fuße der Treppen
von St, Peter stehen, im Evangelium den Rö-
mern, der Welt in unerschöpflicher Fülle gebracht
haben, — Und dann im Hintergrunde dieses ein-
zig großartigen Bildes die Riesenfront der
Peterskirche, mit den Statuen der zwölf Apostel
rechts und links vom Standbild des Erlösers
auf dem Gesimse droben, — und dahinter, da-
hinter dehnen sich vor meinem Geiste die un-
ermeßlichen Hallen deines Domes aus, wo du,
der Fürst der Apostel, wo du, der Fischer vom
See Genesareth, in deinem Grabe ruhst, über dir
den Wunderbau der Kuppel, in einem Grabmale,
dem aus Erden kein Grabmonument von Kaisern
und Königen an Herrlichkeit gleichkommt, Wer
mag die Millionen nennen, die schon vor mir, aus
allen Nationen, aus allen Erdteilen an dem Obe-
lisken vorüber nach Sankt Peter gepilgert sind;
wer mag die Millionen und aber Millionen zäh-
len, die nach mir, alle diese wunderbare Herrlich-
keit vor Augen, nach Sankt Peter
ziehen werden, um vor der Asche
eines Toten zu beten, der nimmer
stirbt,

„Herr Domkapitular, Sie und
der Herr Architekt scheinen zu ver-
gessen, daß wir zum Hl, Vater
gehen sollen", rief uns lächelnd der
Professor zu und riß mich aus
meinen Gedanken heraus; jetzt
wußte ich erst, daß auch der Archi-
tekt stehen geblieben war; die Dame
harrte schon am Ende der Kolon-
naden, wo man in den Vatikani-
> schen Palast eintritt. — „Was soll
!ich mehr bewundern," sprach der
Architekt, indem er mich beim Arm
faßte und mit der Rechten auf die
Hallen hinwies, die in gerader
Linie zu beiden Seiten die Kolon-
naden mit der Fassade verbinken,
„was soll ich mehr bewundern, die
großartige Majestät dieses Platzes,
oder die feine Berechnung des Ar-
chitekten, der die Seitenhallen nach
oben hin enger zusammenrückte, um
durch diese Täuschung des Auges
die Fassade mehr zurückzuschieben
und desto gewaltiger wirken zu
lassen? Wie oft habe ich dieses
alles in Kupferstichen und Photo-
graphien gesehen. und doch schaue
ich es jetzt erst, Wohl befriedigt mich
die Fassade mit ihren in gleicher
Linie liegenden Säulen nicht; sie ist
auch zuwenig kirchlich undkönntevor
jedem öffentlichen Gebüude stehen,
und doch harmoniert alles in wun-

Phot, Anderson

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