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Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — 3.1909

DOI issue:
Heft IV (April 1909)
DOI article:
Muthesius, Hermann: Wohnungskultur, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0071

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gibt. Auch Schicksale des Volkes prägen sich in seiner Kunst aus, man denke
an den Glanz der Kunst der französischen Ludwige, an die deutsche Kunst nach
den Befreiungskriegen, die sich in die Luftgefilde des griechischen Idealismus
rettete — um sich über die Kläglichkeit des wirklichen Lebens hinwegzutäuschen.
Die letzten Jahrzehnte haben nun Deutschland grössere Veränderungen in
seiner äusseren und inneren Lage gebracht, als irgend eine andere Zeit seiner
Geschichte. Aus der unscheinbaren Kleinheit, die ihm noch um die Mitte des
Jahrhunderts eigen war, trat es nach seiner Einigung als neue Erscheinung auf
die Weltbühne. Ein ungeahnter Aufschwung in wirtschaftlicher Beziehung folgte,
der den Nationalwohlstand binnen kurzem vervielfachte. Handel und Industrie
begannen zu blühen, ein neuer, reicher Stand mit frisch erworbenem Geld drängte
Abbildung 4.



sich an die Oberfläche. Selbstverständlich verlangte er bald nach seiner Kunst,
denn diese sollte ihm die Fassung seines jetzt das Bequeme ermöglichenden Lebens
sein. Diese Kunst musste reich, anspruchsvoll, strotzend sein, denn es ist ein na-
türlicher Wunsch des Neulings, die vermeintlichen Vorteile der ungewohnten Ver-
hältnisse mit Behagen auszukosten. Dieser traditionslose Reichtum rief zunächst
die Reproduktion der früheren aristokratischen Stile in der Innendekoration und
im Mobiliar ins Leben. Er führte auch zu den prunkenden Grossstadtfassaden,
vor allem aber zu den überdekorierten Räumen in jeder Form und in jedem Stil,
die für die letzten beiden Jahrzehnte bezeichnend geworden sind. Er wurde der
Grund für den in Deutschland einziehenden Protzengeschmack.
Natürlich ging es in dem Streben nach Entfaltung nicht ohne eine hochge-
steigerte Rivalität ab. Das Beispiel des Reichen gab den Ansporn für den noch
nicht so ganz Reichen, es ihm gleich zu tun, und dabei waren die Mittel nicht
immer die gewähltesten. Er tat es mit den Surrogaten, die in der Entfaltung ge-
rade soviel ausmachen wie die echten Sachen, und auf Entfaltung allein kam es
 
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