Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 15.1935

DOI Heft:
Heft 6 (Juni 1935)
DOI Artikel:
Kahn, Gottfried: Unser Kirchturm ist der schönste!: eine kunsterzieherische Arbeitseinheit
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.28171#0139
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
yinaus befruchtend zu wirkcn vcrmag auf die FUHrung
j,n freien, bildhaften Gestalten.

Dcr rusammengesctztc Volksschulbezirk pausitz.Iahnis-
hausen bildet gleichzcitig ein Dirchspicl. Diescm aber
stchcn zwci Rirchen zur Vcrsiigung mit augenfällig glcich-
artigcn, schöncn Durmhaubcn. Nur ist der Iahnishause»
ncr Turm straffcr durchgcstaltet und darum wirkungs-
vollcr. Dicsen Tatbcstand sollten dic irjährigen Rnaben
und Nkädchen kcnnen lcrnen, und ich bcschritt dabei fol-
genden weg.

Ich tibcrnahm von E. Lohse, Dresdcn, das Thema:
Marburg, die Stadt am Lerge. Eine knappe
Einstimmung führte die Dieflandkinder nach westdeutsch.
land in das liebliche Universitätsstädtchen mit seinen Vil.
len und ,Kausgärtcn und den Bäumen zwischen den Häu-
sern. Ulit Lust und Frcudc kramtc dann jedes Rind sei>
nen Formcnschatz aus.

Dic crste Zeichnung führte uns ungesucht zur zweiten:
wir stiegen den Berg hinauf, um uns die Burg gcnauer
anzuschcn und beschlossen, eine recht schöne Lurg ;u
malen: Die Rönigsburg Hettels vomHege.
lingenlande. wir hatten Anschluß an die Gudrun.
sage (Deutschunterricht) und ließcn uns anregen durch die
Ausnahmcn vieler deutscher Burgen und Tore. wir spra-
chen auch von Granitquadcrn und Ziegclsteinen, aus denen
die Burg erbaut sci. Daran knüpfte sich die ausgespro-
chenc Gcstaltungsaufgabc: Ieder Stein hat eine andere
Farbe. Ahr braucht nur hinauszusehen, jede Mauer über.
zcugt euch davon, daß es so ist.

blnd höhcr noch spannten wir die Erwartungcn. For-
men und Farbenfreude sollten sich ins Märchenhafte stei-
gern: 2llhambra, das turmreichc Schloß im
sonnigen Süden. Dort braucht man keinc festcn
Mauern. Arkaden laffcn die Luft von allen Seiten herein.
Anstatt mit Granit und Ziegeln baut der Südländcr mit
buntem Marmor. Die Ausstellung der Rönigsburgcn gab
Gclegcnhcit, das Augenmerk besonders auf die Türme und
ihrc Hauben ;u lenkcn. Vlun betrachten wir noch Bilder
der Alhambra, russischer Rirchen, indischer pagoden und
chinesischer Dempel. Auch der Schüchternste soll Mut
bekommen.

Viele Dürme haben wir im Bilde besehen, viele Türme
haben wir selber gestaltet. Jetzt gehen wir hinaus zu dcn
heimatlichen Türmen. Schlichte Zimmerleute erbauten sic
in den Aahren i7^>o—17s;. Aus gan; gleichcn Bauteilen,
aus Zuckerhut, würfel, Rugelkappe und geschweiftem Sok-
kel schufen sie die Hauben. Simse, Rundfenster und Giebel-
chen zieren hier wie dort die großen Hauptteile. Und
trotzdem sprechen verschiedene Seelen aus ihren Gestal-
ten. Stiernackig gedrungen steht der pausitzer Turm auf
weiter Höhe. Schlank und träumend wächst der Iahnis-
hausener aus schattigem Tal hinauf in die wolkcn. Sie
verkündcn beide eindeutig ihren Sinn: der eine ist Hüter
an breiter Staatsstraße, dcr andere aber schmückt dic
Rapelle des ehemalig königlichen Schloffes.

Gan; behutsam wagte ich dann auf den Formwert-
ünterschied hinzuweisen, dcr im Lichtbild nur schwer ;u
erkennen ist. Die Grenze zwischen Hälbkugel und würfel
hat der Aahnishausener Meister als scharfen Rnick ver-
wirklicht, während der 'pausitzer den Ubergang verschliff.
Das aber verschuldbt eine^-.weichheit, die auch auf dcn
Gcsamtschwung des Sockels Lbergreift, und die dem pau-
sitzer Turm trotz aller wucht die innere Rraft raubt,
die aus dem zarteren Räpellenturme spricht.

Um' den Stol; der paüsitzer Schüler wiedcrherzustellen,
verglichen wir beide Turme mit dem ähnlichen, aber un-
! gröberen Rirchturme von Zehren und dann gingen

Sänilzimmer, uin den sibönstcn dcn Aabnis-
u, aus iber Vorstellung nachzugestalten. Das (
er Meisterstück, die Hrsbe -arauf, sb wir
n, mit osscnen Augen;ü verstehen, was unsere
e vor Aahrhundcrten in Guadrrsteinen und Eichen-

balken dichteten. Aedes Rind untcrzog sich gern dieser
prüsung, und jedes bcstand sie in seiner Art.

wodurch nun unterschcidet sich diese Themenreihe von
dcm Nebcncinandcr gänzlich freier bildhafter Gestaltun-
gcni Dic Rindcr haben das sichere Gefühl, cinen weg
gcführt ;u wcrdcn, obglcich sic das Ziel der wanderung
nicht wiffcn. Die Burg war Vertiefung einer Leilgc-
stalt dcr Stadt, die Alhambra war wiederholung und
Durchglicdcrung dcr Burg und dcr Rirchturm war im
Grunde nichts andcrcs als die formhaft gerichtete wie-
dcrholung eines dcr Burgtürme.

Dem Nachdcnkcn abcr enthüllt dieser weg eine durch-
gehende Gesctzmäßigkcit: Die erste Arbeit ist bloßes wag.
nis. Am Zeichenunterricht selbständig arbeiten ;u müffen,
das ist den Rindern noch nicht zugemutet worden. Darum
das inhaltlich vicldeutige Thema, darum das Abdrängen
der „Verkürzung" schon durch die Thcmenstellung: Stadt
„am Berge^, darum die Freigabe jedcs Gestaltungsmit-
tels. Plichts darf das Rind hindcrn, in das wagnis ein;u>
trcten, denn davon hängt dcr Erfolg aller anderen Be-
mühungcn ab. Abcr schon die zweite Aufgabe baut auf
unglcich festerem Grund. Selbständigcs Schaffen ist nichts
Neues mchr. Sclbst die Burg hat das Rind schon gezeich.
net. Es darf ausserdem noch Anregungen aus Bildcrn
holen. Einer solchen Sicherheit kann schon etwas ;u-
gemutet werden: das wagnis der farbigen Durchgestal-
tung. Und die dritte Aufgabe ist gar bloß eine wieder-
holung der zweiten. Das gesteigerte Thema aber erzwingt
cinen Fortschritt. Der Märchentraum vom Marmorschloß
muß auf kaltem Papicr Gestalt erhalten. Nur mit dem
gefestigten Gcfühl tcchnischer Sicherheit konnten die vor-
sichtigen Dorfkinder den Schritt in das Reich phantasti-
scher Formenfülle wagcn. Die Nachgestaltung des Durmes
aber schloß alle Erfahrungen zusammen: Die kluge Be.
schränkung auf die selbsteigene Gestaltungsstufe, die sau-
bere und farbcnreiche pinselführung und die erst unbe-
wußt und dann mit Absicht erworbene Fertigkeit im
Durchformcn von Turmhauben. ll^eu und zugleich zwin-
-gendcr als alle vorausgegangenen Forderungen war die
Unterordnung unter eine gegebene Gestalt. Sie konnte
ohne Ängstlichkeit und Selbstaufgabe geschchen, weil die
vorangegangene Gestaltungsarbeit die seelische Bereit.
schaft dazu geschaffen hatte.

Aede neue Aufgabenstellung hatte also ein doppeltes
Gesicht: Das einc wandte sich rückwärts, erinnertc sich
vollbrachter Taten und schöpfte daraus den willen, Er.
fahrungen ;u beachten. Schon das ist ein Vorwärts-
schrciten, sagt doch O. Hagen in seinem Buch vom deut-
schen Sehen (Seitc 10;): „Vsur indem män die Aufgabe
immer wieder von neucm ;u lösen unternimmt, tzelangt
die dem Gegenstand gemäße künstlerische Sprache und die
eigcntliche bildhafte Gestalt zur allmählichen Entwick-
lung." Das andcre Gesicht aber schaut vorwärts, Vleues
;u entdecken. Hier ist das Stück wagnis ;u Hause, wel.
chcs ;u jedem werk gehört und welches sich dem schuli.
schen Zugriff entzieht. E. Zierer schreibt in cinem Aufsatz
Lber Rinderzeichnung und Runsterziehung (S. 27) davon:
„welche wege auch immer durch die Entwicklung der
Menschheit und des Einzelindividuums eingeschlagen wer.
den mögcn, sei es durch Erziehung, sei es durch eigcnes
Suchen, niemals garantieren sie das künstlerische Ziel."
Den Iciscn Unglauben abcr, der aus diesen worten spricht,
den müssrn wir deutschen Runsterzieher erseycn durch das
felsenfeste Vertrauen auf die ewig neuquellende Gestal-
tungskraft des deutschen Blutes und der deutschen Geele. (
Dann werden wir auch wieder den Mut haben, die Rin-
dcr klare wegc ;u führen, aber nicht vom Einzelnen ;um
Zusammengesetzten, sondern vom Vielgestaltigen und Vor.
läufigen ;ur durchgeformtcn eigenwilchstgen Einzclgestalt.
Und wenn wir das tun, dann stehen wir mitten im
Strome des deutschen Rvnstlebens, denn .,wir spüren
überall rine Liebe ;ur Begrenzung, die in wahrheit die
Voraussetzung ;ur Vertiefung ist" (Runstkammer, Ianuar
,s;e, S. 11). ,7.^ - ^
 
Annotationen