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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 9.1898

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Hagen, L.: Der Entwicklungsgang der modernen Kunststickerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.4886#0071
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Kopfleiste, gezeichnet von Maler A. Wimmer, Leipzig.

DER ENTWICKLUNGSGANG DER MODERNEN

KUNSTSTICKEREI

IN der Beurteilung kunstgewerblicher Dinge tritt
neuerdings im Anschluss an die „moderne" Be-
wegung das Bestreben zu Tage, die Grenzen ein-
zelner Techniken zu durchbrechen und, dem neuen
Stil zu Liebe, Bahnen einzuschlagen, die in ihren
äussersten Konsequenzen wieder in den verurteilten
Schlendrian der alten Zeit hineinführen.

Vor allem wird auf Seiten der Kritik und auch
seitens der Künstler, die sich mit gewerblichen „Tech-
niken" beschäftigen, die nötige Abgrenzung der ein-
zelnen Gebiete gegeneinander ausser acht gelassen.
Man kann z. B. aller Freude an den neueren Metall-
geräten zum Trotz, sich der Beobachtung nicht ver-
schliessen, dass die Liebe zur zeichnerischen Schön-
heit der Linie sehr oft einen Zwang auf den Geist
der Technik ausübt. Wesentlich stärker noch macht
sich der Mangel an Abgrenzung der Gebiete in den
Textilkünsten geltend. Fortwährend stösst man auf
Grenzverschiebungen zwischen dem Bereich der Webe-
kunst und der Stickkunst. Dann auch sind die ent-
werfenden Künstler geneigt, den Wert der seelischen
Lebensäusserungen, der Begeisterungsfähigkeit und
künstlerischen Selbständigkeit, ihrer ausführenden
Kräfte zu unterschätzen. Immer wieder stösst man
auf Spuren eines Systems, das dem ausführen-
den Arbeiter die Rolle der Maschine zuschiebt. Es
fehlt an jener Achtung vor der Menschenwürde, welche

die Darstellungen Meuniers oder des älteren Millet
so himmelhoch über das pessimistische Winseln empor-
hebt, das in so manchen Darstellungen des modernen
Ärbeiterlebens zum Ausdruck kommt. Meunier stellt
uns seine Arbeiter nicht dar, um über ihr Elend zu
jammern, sondern um den Wurzeln der Geistcskultur
in ihren feinsten Fasern nachzugehen, um, im Sinne
des Arbeitsphilosophen Thomas Carlyle, zu zeigen,
wie die unscheinbarste Arbeit jedes Einzelnen zum
Gedeihen des Ganzen unentbehrlich ist — wie aus
der Treue im kleinen die Treue im grossen heraus-
wächst und wie jene umfassende Gemeinschaft der
edelsten Geister aller Klassen entsteht, die den Starken
für den Schwachen eintreten lässt trotz aller Ungleich-
heit der Gaben. Nur auf einer klaren Erkenntnis dieser
Grundbedingung kann die Thätigkeit der Künstler
bei der Entfaltung des Kunstgewerbes für alle Be-
teiligten im geistigen und im materiellen Sinne ge-
deihlich wirken.

Schlagende Beispiele von der ungleichen Stellung
der entwerfenden Künstler zu ihren ausführenden
Kräften gab die Ausstellung der Lehrer des Berliner
Kunstgewerbemuseums in ihren charakteristischen Ver-
tretern Otto Eckmann, und Max Seliger. Die Scherre-
becker Webereien und die Knüpfteppiche nach Eck-
manns Entwürfen sind Meisterwerke auch in dem
Sinne', wie sie sich dem geistigen Niveau und den
 
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