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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 15.1903-1904

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Seliger, Max: Die praktische Betätigung der Lehrer: der Zusammenhang der technischen und kunsttechnischen Schulen und die Einrichtung von Meister- bezw. Lehrwerkstätten an Kunstgewerbe- und Fachschulen, (Rede des Referenten Direktor Professor M. Seliger auf dem Delegiertentage des Verbandes deutscher Kunstgewerbevereine zu Braunschweig, 20. März 1904)
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https://doi.org/10.11588/diglit.4871#0219
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208

DIE PRAKTISCHE BETÄTIGUNG DER LEHRER

schnittlich weiter, besser und freier sein als die auf
gegenwärtige weltwirtschaftliche Hindernisse rücksicht-
nehmende »Praxis«.

Natürlich müssen die Schulen mit modernstem,
zuletzt erfundenem Gerät und Stoff ausgerüstet sein,
auf der Höhe der Zeit stehen. Sie müssen aber
immer ideal empor und zukunftsblickend streben,
versuchsfreudig sein — sonst erziehen sie Schöpfer
für vergangene Lebensbedingungen und Techniken.
Sonst schaffen sie nicht in den erreichten Verhält-
nissen Wandel nach aufwärts. Unsere obigen Schulen
hinken jetzt meist hinterher, stehen vielfach nicht
auf der Höhe der zeitlichen Technik und Ästhetik,
geschweige, daß sie zu führen, für bessere Zukunft
zu bereiten, fähig wären.

Zwangsbildung ist der Schutz der erreichten
Qualitätshöhe. Hätte
unser wissenschaftlicher
Unterricht nicht seine
Stufen, Prüfungen und
klaren Ziele in jeder
Stufe, so wäre das
Reifezeugnis eines

Gymnasiums und an-
derer Schulen wertlos.
Die Bildungsqualität
wäre schwankend, die
Universität hätte un-
brauchbare Schüler und
ihr Werk wäre unbe-
rechenbar. Der Verfall
würde beginnen. Ich
hörte oft, daß das Reife-
zeugnis unserer Kunst-
gewerbeschulen jetzt
wenig und gar nicht
geschätzt ist.

Ich kann auch die
heutige Technik, die
»die Praxis« festhält,
während sie zugleich
nicht gerade von der
theoretischen unprak-
tischen Bildung der Kunst- und Kunstgewerbeschule
entzückt zu sein pflegt, nicht als Qualitätsziel und als
vorbildlich für die Schule anerkennen. Wir müssen auch
dieTechnik nach höheren, nach denselben künstlerischen
Begriffen wie die Ästhetik oder Erfindung lehren.

Es. ist aber geradezu widersinnig, wenn man die
Zöglinge der Schulen ob ungenügend praktischer
Bildung tadelt und andererseits der Schule nicht ge-
statten will, daß sie die Technik auch einführt.

Hochgesinnte Technik wird nur gelehrt werden
können, wo verantwortliche Gesinnung gefordert wer-
den kann und sein muß; der Ort ist die Schule.

Ich kann überhaupt die Arbeitsweisen der außerhalb
der Schule tätigen Erzeugerkreise nicht als maßgebend
für die Schulen anerkennen. Ich wünsche vielmehr,
daß die Schule und ihre Ansichten von dem, was
ein gesunder, dem Werk förderlicher Herstellungsweg
ist, draußen beachtet werden.

GROSSH. MAJOLIKAMANUFAKTUR KARLSRUHE,
FLIESENBILD VON MALER WILLY SUS

Ich möchte nun den Arbeitsweg skizzieren, an
den in den letzten dreißig Jahren Kunstgewerbeschule
unsere Schüler gewöhnt wurden. Es erscheint mir
begreiflich, daß nachher die Schüler unsere Sitten auch
in die Werkstätten der Praxis einführten oder daß
von dieser die Ziele und Gewohnheiten der Schulen
übernommen wurden, so daß auch dort ein halbes
Ziel aufgesteckt wurde, zu dem ein Weg. führt,
auf dem unmöglich das ideale Werk erreicht wird.
Dabei ist unbewußt ein unkameradschaftlicher Schöpfer-
geist sowohl bei der ästhetischen als bei der tech-
nischen Seite der Arbeit aufgesäugt worden, der bei-
nahe direkt zu unlauterer Werkerzeugung geführt hat.
Es ist sehr schwer die Grenze zu ziehen zwischen
geistigen Anlehnungen und Entlehnungen, zwischen
lauterem und unlauterem Wettbewerb, zwischen

geistigem und körper-
lichem Diebstahl.

Die Schule gewöhnt
zunächst als an etwas

Selbstverständliches
die jungen Arbeiter,
nur eine, kaum die
bessere Hälfte des Wer-
kes, statt dieses ganz
zu erstreben. Sie ge-
wöhnte also daran, die
Erschaffung des tech-
nischen Teils einer an-
deren Partei zu über-
lassen, und sich um
diese Hälfte Werkent-
stehung nicht mehr zu
sorgen.

Beide Parteien streb-
ten dann in entgegen-
gesetztem Geiste. Die
Schulpartei strebte in
idealem aber theoretisch
abstrakten Geiste so gut
wie lediglich ästheti-
schen Problemen nach,
die Praxispartei in kon-
zessions- und geschäftsfreudigem, wenig verantwortlich
gesinntem Geiste ausführungstechnischen Zielen zu.
Die erste Partei erhielt für ihr Ziel und ihre Be-
mühungen (für die Konzeption, die erste Hälfte des
Werkes) Ehre und Ruhm meistens allein — die
andere hatte weder viel Freude noch Ehre bei der
Ausführung des Werkes; sie strebte deshalb nach
Geldentschädigung für das Werk, nach dem »guten
Geschäft«.

Daß jede dieser Einseitigkeiten und Halbtätigkeiten
in Gefahr kommen mußte zu erkranken, will ich
noch versuchen zu zeigen.

Die Schulen hatten durchschnittlich keine Werk-
stätten, keine Endtechniken. Sie konnten deshalb die
Persönlichkeit nicht unbeeinflußt und völlig ent-
wickeln. Sie konnten aus der Technik nicht die Ent-
würfe frei herleiten, darüber Beweis und Aufklärung
geben. Sie konnten auch nicht komponieren lassen
 
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