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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 26.1915

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Lüthgen, Eugen: Der Zweckgedanke im Kunstgewerbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.3871#0129
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Das Kunstgewerbe besitzt geringe Verbindung
mit der Natur. Es wächst hervor aus abstrakten,
formschöpferischen Oeistesregungen. Es entbehrt jeden
Maßstabes und jeder Messung, die die Formen der
Wirklichkeit an sich bieten. Daher gerade im Kunst-
gewerbe die Möglichkeit vielfältiger Entgleisungen,
die Möglichkeit, aus unsinnlichen, gedanklichen Vor-
stellungen unwahre, lebensschwache Formen zu er-
zeugen.

In der Zeit, in der sich die Künstler wieder und
wieder zur Rechtfertigung ihrer Darstellungsmittel
und -weisen auf die Natur beriefen — es geschah
rücksichtslos in den letzten Jahrzehnten des vorigen
Jahrhunderts — führte der Zweig der bildenden
Künste, der aus inneren Gründen dieses Maßstabes
entbehrte, ein weg- und richtungsloses Dasein. Für
das Kunstgewerbe boten die Entwicklungsgesetze, die
Malerei und Bildhauerkunst aus der Beobachtung der
Naturformen zogen, keine Klärung. Nur ein sicheres
Stilgefühl hätte dem Kunstgewerbe die vielfältigen
Irrtümer unbegründeter Formversuche ersparen können.
Da aber das Gefühl für Stil infolge der Vernichtung
handwerklicher Schaffensweisen durch die Massenher-
stellung sich den neuen Herstellungsmitteln noch
nicht hatte anpassen können, wurde die Verwirrung
allgemein.

Es sind die Zeichen der Stilunsicherheit vergehen-
der und werdender Formen, die das neue Kunstge-
werbe bestimmen. Solange das Kunstgewerbe den
Spuren der bildenden Kunst, d. h. den Bestrebungen
einer möglichst naturgetreuen Wiedergabe der Wirk-
lichkeit, zu folgen versuchte, ermangelte seinen Formen
jede freie, phantasievolle Gestaltung; solange die
Schmuckformen im Kunstgewerbe, solange Gliederung
und Aufteilung der Fläche durch geometrische Formen,
durch gleichseitige Vielecke, Kreise und Schnecken-
linien ihr Dasein allein mathematischer Rechnung
verdankten, war der Ausdruck persönlicher Eigenart
und inneren Erlebens vielfältig gehemmt. Die letzten
Jahre erst brachten darin zugunsten der freien Tätig-
keit der künstlerischen Phantasie eine Änderung.

Diese Hemmungen formschöpferischer Gestaltung
sind noch im neunten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts
wirksam. Es sind die gleichen Hemmungen, die
Übergangszeiten zu begleiten pflegen. Sie sind keines-
wegs beschränkt auf das Gebiet der bildenden Kunst
und des Kunstgewerbes; vielmehr sind sie kennzeich-
nende Merkmale der herrschenden Kulturströme des
19. Jahrhunderts. Ihre Art und ihr Wesen ist nur
als Ausfluß der geistigen Gesamtlage der Zeit er-
klärbar. Geistiges und Künstlerisches, die zwiespältigen
Erlebnisse neugearteten Fühlens greifen verworren
und sich verwirrend ineinander über.

Das 19. Jahrhundert erweiterte die Grenzen der
Wissenschaft und Technik. Wissenschaftliche und
technische Erkenntnisse sind es, die allzu häufig den
der Kunst eigentümlichen Entwicklungsgang stören. Das
ist der Grund, weshalb den Formen des neuen Kunst-
gewerbes die Merkmale des aus gedanklicherÜberlegung
hervorgegangenen Versuches anhaften, weshalb gegen-
sätzliche, sich widersprechende Gedanken und Formen

vergebens zur künstlerischen Einheit sich einen wollen.
Das ununterbrochene Suchen nach Stil ist das Er-
gebnis der Übergangszeit.

Denn Übergangszeiten bedingen eine Kultur der
Gegensätze. Auf der einen Seite der Hang, alle Er-
scheinungen bis zu den äußersten Grenzen zu steigern,
Halbtöne zu verwischen, die Dinge furchtlos anzu-
fassen, auf der anderen ein lautes Hin- und Her-
schwanken, halbunterdrückte Neigungen, halbgenossene
Freuden: eine stille Furcht, das Maß des Erlaubten
zu verkennen.

Solche Zeiten besitzen nicht eigentlich Stil. Möglich,
daß ein Stil im Werden begriffen ist, sich langsam aus-
bildet, heranwächst. Reicht die seelische Kraft nicht
aus, einen Stil zu gewinnen, dann offenbart sich dem
Erkennenden plötzlich die reife Furcht entgegenge-
setzter Strebungen: der neue Stil einer neuen Zeit.

In der Tat fordert man von der Kunst, sie solle
Stil haben, Stil aber sei, so sagt man, das reife Er-
gebnis einer langen, zielsicheren Entwicklungsreihe.
Erweist sich irgend eine Richtung der neuen Kunst
als in gleichen Geleisen fortschreitend, ist man allzu-
leicht geneigt, den werdenden Formen »Stil« zuzu-
sprechen.

Dieser Leichtsinn des Denkens hat den guten Ruf
des neuen Kunstgewerbes begründet. Seit fünfzehn
und zwanzig Jahren sind es immer dieselben Worte,
in die man den neuen Stil einhüllt. Worte, denen
die Formen der Kunst so gleichgültig sind, als handle
es sich um nichts anderes als um das geschickte Zu-
sammenleimen und Zimmern von allerhand Leisten,
Brettern und Bohlen; um die einzige Fähigkeit, Holz,
Metall und Stein so zu bearbeiten, als sei es eben
Holz, Metall und Stein und nicht etwa Pappe, Ton
oder Tuch. Mit diesen Kenntnissen und Fähigkeiten
verstand man es, aus den Stoffen die einzigartigen
ihnen innewohnenden stofflichen Besonderheiten her-
auszuholen; man verstand es, werkgerechte Arbeit zu
liefern; d. h. den einzelnen Stoffen durch besondere
Herstellungsweisen solche Formen zu geben, die dem
Wesen und der Eigenart der Stoffe entsprachen. In
eins zusammengefaßt: man hatte die Gesetze hand-
werklicher Gestaltung in Händen. Man spielte mit
ihnen.

Das alles bedeutet nichts anderes als: schon in
den Stoffen eingebettet liegen alle Möglichkeiten
künstlerischer Formgebung. Man braucht sich nur
an die sinnlichen Reize der Naturdinge zu halten;
an die Geschicklichkeit des Handwerkers und der
Maschine. Im übrigen wird die besondere Form ja
nachdrücklich bestimmt durch ihren Zweck. Daß ein
Tintenfaß Tinte aufnehmen solle und ein Bücher-
schrank Bücher, das war eine Erkenntnis, eine An-
regung, neuen Formen nachzusinnen und sie zu finden.

Das Ergebnis dieser Bestrebungen ist die Ver-
edelung der gewerblichen Arbeit, die »Qualitätsware«,
der »Veredlungsstil«.

Daß diese Strebungen einer Durchdringung der
handwerklich guten Arbeit mit künstlerischen Formen
so alt sind wie die Herstellung von Gebrauchsgerät
überhaupt, übersah man geflissentlich. Ein neuer

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