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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1905)
DOI Artikel:
Nissen, Benedikt Momme: Die mittlere Linie, [1]: zur heutigen deutschen Kunstlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0664
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dem sich Alle ein- und unterordnen, könnte München aus seiner jetzigen
Lethargie retten. Die Knnst braucht für ihre innere Entwickelung nie,
sür ihre äußere Repräsentation zuzeiten einen Dirtator. Aber deutsche
Kunst darf natürlich nur im deutschen Sinne geleitet und vertreten
werden. Wer nach Paris gravitiert, kann ihr nicht helfen.

Bekanntlich machen Dresden und Düsseldorf jetzt bessere Kunst-
ausstellungen als Berlin. Jn Deutschland scheinen eine Anzahl von
mittleren Machtfaktoren berufen, den Ausgleich zwischen einer mehr
auf Verstand und einer mehr aus Gefühl gegründeten Kunst, zwischen
deutschem Norden und deutschem Süden, herzustellen. Erst bei einem
Zusammenwirken des Münchener Temperaments, des Dresdener Ge-
schmacks, der rheinischen Verve, der schweizerischen Gediegenheit, der
gesunden Wurzelkraft einzelner Malkolonieen wie Worpswede u. a.,
sowie bei angemessener Unterordnung des Berliner Kalküls unter genial-
deutschen Volksgeist — wird das deutsche Kunstleben sich zu höherer,
fruchtbarer Einheit gestalten. Die preußische „reine Vernunft" würde
nicht nur der deutschen Kunst nicht schaden, sondern ihr viel nützen,
wenn sie sich recht einordnen wollte. Fügt Berlin sich hierin nicht,
so kann es, was teilweis schon eintrat, durch seine Konkurrenten,
die mittleren deutschen Kunststädte, auch noch äußerlich überholt werden.
Es handelt unpolitisch, wenn es seine altbewährte Kunstlinie: der
Schlüter, Schinkel, Rauch, Menzel verläßt zugunsten fremder Theo-
rieen und Moden.

Jn diesem Gentleman — dem heutigen Kunsthändler —
hat sich der Geist des ganzen kunstsinnigen Publikums zu
einer einzigen Kapazität konzentriert, welche eine . . . Ge-
schmackstyrannei über die ihr leibeigen gewordene Kunst
verhängt hat. (Bayersdorfer)

Bei der Gleichgültigkeit Wilhelms II. gegen eine Anzahl erster
deutscher Meister von heute, bei der künstlerischen Kurstreiberei durch
maßgebende Berliner Händler, bei dem Mangel an Empfänglichkeit
für deutschoriginale Leistungen in der Reichshauptstadt — ist die
deutsche Kunst vorläufig auf Dezentralisation angewiesen. Das
Volk hat heute ein Recht auf diese. Es darf zu Gunsten zufälliger Mo-
den und Strömungen im Kunstleben seine geistige Souveränität nicht
opfern. Poesie gedeiht bekanntlich, unter Umständen, besser in Clever-
sulzbach als in Berlin. Selbständige Kunstcharaktere müßten noch mehr
als bisher das Land kolonisieren. Der künstlerische Provinzmoderne,
jetzt allzu leicht durch Tageskunst beirrt, würde dadurch Eigenkraft
gewinnen.

Der Versuch, die „beste" deutsche Kunst unter die geschäft-
liche Direktive einer Art Konzertagentur Wolsf zu bringen, erscheint
sehr bedenklich. Zentralisation der Landeskunst unter einem Für-
sten wie Ludwig I. von Bayern, unter einer Aristokratie wie
der von Venedig, unter einem Papste wie Julius II., unter
einer Bürgerschaft wie der zu Amsterdam bewirkt das Empor-
blühen der Künste. Zentralisation der Tageskunst unter der „auto-
nomen" Leitung von Kunsthändlern, wie im heutigen Paris und Berlin,
kann zu solchem Ergebnis nicht führen. Ueber die dabei angewandten

6^0 Runstwart XVIII, 9
 
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