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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,4.1908

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Heft 23 (Erstes Septemberheft 1908)
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Avenarius, Ferdinand: Die Großen und wir: zu den Gedenktagen an Bismarck und Tolstoi
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https://doi.org/10.11588/diglit.7707#0317
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Iahrg. 21 ErstesSeptemberheft!908 Heft 23

Die Großen und wir

Zu den Gedenktagen an Bismarck und Tolstoj

war die größte nationale Persönlichkeit, die das Deutsch--
^P'Htum im vorigen Iahrhundert hervorgebracht hat. Es gibt noch
'^-^Menschen, die das nicht zugeben? Wohl, auch sie werden kaum
bestreiten, daß Bismarcks Leben die stärkste ästhetische Erscheinung
persönlicher Art war, die das neunzehnte Iahrhundert uns Deutschen
geschenkt hat. Man sollte denken, wer nur irgendwie zu unsern
Kreisen gehört und also gewöhnt ist, sich an der Erscheinung als
solcher zu freuen, aber auch aus der Erscheinung das Sein zu lesen,
dem müßte das Gedenken an diese Fülle von echter Kraft und von
rückhaltloser Betätigung etwas wie ein Seebad sein — ganz gleich--
viel, wo er politisch steht. Was mir ein Lenbachsches Bildnis über
Bismarck als Menschen sagt, und wessen ich mich daran freue, kann
ich mich dessen nicht auch in der Erinnerung ans wirkliche Sein er-
freuen, vorausgeseht natürlich, ich hab es erfaßt? Daß die Zeit
mitunter ziemlich schnell schon reinigt, das bewiesen diesmal die
Gedenkaufsätze der Tagespresse tatsächlich. Man vergißt schon recht
weithin den „alten Spahn", man sieht schon Bismarck auch bei
den Gegnern.* Nun kommt Tolstois achtzigster Geburtstag. Man
dürfte ihn mit Bismarck in einem Atem nennen auch ohne die Zu-
fallsbeziehung der Zeit, denn für sein Vaterland und dessen Kultur
ist seine Bedeutung unabschätzbar groß, vielleicht freilich wegen seiner
Einseitigkeit mit. Werden die Betrachtungen über ihn auch in seiner
tzeimat verhältnismäßig so wenig mit Parteilichem belastet sein, wie die
jetzt bei uns über Bismarck? Er lebt ja noch! Denken wir an unsre
Preßaufsätze über Bismarck zu seinen Lebzeiten zurück: es scheint un-
möglich, daß in Parteikämpfen mit Dauerwerten gemessen wird. Wie
lange es manchmal währt, bis eine Persönlichkeit historisch betrachtet
wird, hat uns kürzlich der Wagner-Tag gezeigt. Wie viele leben noch,
die dem Bayreuther seine Wiener Schlafröcke noch heut nicht verzeihen
können. Wie viele anderswo, die bei der Erinnerung an tzebbel
durch seine scharfen Worte über Wagner gestört werden. Oder wieder
anderswo, die Wagner nicht verzeihen können, wie er über tzebbels
Nibelungen dachte. Oder abermals anderswo, die an Nietzsches Ge-
danken über Bayreuth heute noch Argernis nehmen. Bismarck, Tolstoj,
Wagner, tzebbel, Nietzsche — ja freilich, wie viele Widersprüche
gegeneinander deutet schon die Aufzählung an! Aud die Träger
dieser Namen widersprachen und widersprechen nicht nur einer dem
andern, sie widersprachen und widersprechen auch, wer weiß wie oft,
ein jeder sich selbst.

* Daß der Kunstwart Bismarcks bei der zehnten Wiederkehr seines
Todestages nicht gedacht hat, war trotz unsrer früheren Aufsätze über ihn
nicht in der Ordnung. Es war die Folge eines Versehens, das mit
meiner langen Abwesenhcit im Auslande zusammenhing. A

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