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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 7 (1. Januarheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Verstehen und Nacherleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0017
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man erfahren, wre des Meisters alte Mutter unheilbar siechte und
wie der Sohn während dem in des Lrasmus Büchlein vom christ--
lichen Ritter las. So wird dem Betrachter nach dem Erleben dessen,
was Dürer in sein Werk gelegt, auch das Verständnis dieses Werks
als einer künstlerischen Schöpfung kommen. Eine sehr edle Zugabe
zu dem seelischen Gehalt, den Dürer selbst unmittelbar geschenkt
hat, — immerhin an Wichtigkeit nur eine Zugabe.

Lin Beispiel aus der Dichtung. „Füllest wieder Busch und Tal" —
wir lasen Goethes „An den Mond". Wir lasen es und fühlen den
Dichter zwar, vergessen ihn aber als diesen besondern Menschen Wolf--
gang Goethe sofort wieder: Wir, die Leser, sind auch das Ich, das
hier spricht. Anser eignes Erleben vergangner Zeit steigt als Er--
innerung in uns auf, alles, was Wesen hatte, ist wieder da, aber
wie die Landschaft draujzen im Mondschein: undeutlich in den gleich--
gültigen Einzelzügen, zu einfachen stillen Ganzheiten geworden, vom
Alltäglichen gelöst durch Silberlicht, mit allem ringsum vereinigt in
eine Harmonie. Fühlen wir das in der reichen Ruhe, in der jedes
Weh zur Wehmut befriedet ist, so genießen wir des Gehalts, den
Goethe uns mit diesem Gedichte gab, so erleben wir seine Dich-
tung nach. Ikm sie zu verstehen als Kunstwerk, braucht es dessen,
braucht es aber noch mehr. Wir müßten dazu den Kunstmitteln im
einzelnen und ihrem Zusammenwirken nachgehn. Wir müßten uns
an den Tod des Fräuleins von Laßberg erinnern und seiner Ein--
wirkung auf Goethes Seele, auch des Besuches von Plessing bei
Goethe, und müßten die verschiedenen Fassungen des Gedichts mit--
einander vergleichen.

Aus dem Reiche der Musik genügt eine Lrinnerung an Bachs
Fugen. Im „Wohltemperierten Klavier" wird das weite Reich von
Leid und Freude des Menschen tönend durchschritten. Man braucht
kein Musiker oder Musikgelehrter zu sein, um nachzufühlen, was
da jubelt oder klagt. Aber diese Werke als Schöpfungen der Ton--
kunst zu verstehen, würde nicht nur Fähigkeiten, sondern auch
Kenntnisse erfordern. Braucht doch Riemann zwei Seiten seines so
gedrängten Lexikons, um allein den Begriff der Fuge darzulegen.

Ein Erlebnis zu gestalten, das drängt den Künstler zum Schaffen.
Sei's groß oder klein, sei's ein Sehnen nach Gott, ein Schmerz um das
Teuerste, ein Iubel um eine Liebe oder sei's die bescheidene Freude an
einem Ausschnittchen des Weltbildes, in dem doch auch die Sonne
noch wirkt: mit seinen Ohren und Augen läßt er uns lauschen und
schauen, was er erlauscht und erschaut hat mit seinem auf diesem
Wege führerhaft uns voranschreitenden Ich. Wollen wir sehen, was
er uns zeigen will, müssen wir dorthin sehen, wohin er zeigt. Sehen
wir statt dahin auf seinen Finger, möglich, daß wir dann auch was
Schönes sehn. Aber jedenfalls nicht das, wegen dessen e r das Kunst--
werk schuf. Oder er wäre nur ein Virtuos, der von der Welt selber
und ihrem Einwirken auf sich nichts weiter zu sagen hat, als „une's
gemacht wird", um „nach etwas auszusehn". Beim Kunstwerk ist
das Verstehen der Kunst im Werke vielleicht ein sehr großer Ge--
nuß, vielleicht sogar der Genuß, der die Teilnahme des eigentlichen
Kenners auf die Dauer fesselt. Aber das eben unterscheidet den eigent--

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