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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 15 (1. Maiheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0219
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davon haben wir ja vortreffliche
Beispiele: Schwind und Ludwig
Richter. Und was ist ihr Geheim--
nis? Schwind und Richter crkennen
die Märchen der Luft und Land»
schaft; in diese haben sie sich mit
dem Herzen hineingelebt, und dar-
um wirkt bei ihnen eine schwache
Horizontlinie, ein Taubenflug am
Himmel so innig und so märchen-
haft, und darum vermögen sie die
Märchenerzählung noch zu vertiefen,
indem sie sie beseelen und beseeligen.

Carl Spitteler

Ludwig Nichter und das
Kind

^»in Vater zeigte seinem Kinde,
^das die Woche über sich mit
anderen, wenn auch ausgewählten
Bilderbüchern beschäftigte, jeden
Sonntag ein Blatt von Ludwig
Richter. Die Mutter kam mit
heran, das Bild zu betrachten, das
der Vater erklärte, mit wenigen,
aber herzlichen Worten, zunächst
nur auf den Hauptgehalt der Dar--
stellung hin. Dem Kinde wurde
warm dabei, und oft genug über-
nahm es selbst die Erklärung, in-
dem es in kurzen Ausrufen leb-
haft hinwies auf diese oder jene
Gestalt, von deren Anblick es ge-
rade bewegt wurde. Dieses Vier-
telstündchen am Sonntag wurde
dcm Kinde bald eine wahre Fcst-
zeit mit einer Art Wcihnachtsstim-
mung, auf die es sich die ganze
Woche freute. Und die Eltern
freuten sich mit. Im ersten Iahre
wurden die vier Hefte von „Fürs
Haus" betrachtet, die die vier Iah-
reszeiten darstellen und gerade für
die zweiundfünfzig Sonntage und
für die Festtage reichen. Natür--
lich besah man im Frühling eben
den Frühling, im Sommer den
Sommer usw. So war für das
Kind die natürlichste Verbindung
von Leben und Kunst gegeben: was

es draußen im Gärtchen odcr auf
Ausgängen mit den Eltern durch
Wald und Flur in Wirklichkeit
sah, das fand es, oft jauchzcnd
vor Vergnügen, im Bilde wieder;
nnd sichtlich empfand es im Bilde
nicht nur die Wirklichkeit, sondcrn
auch ihre innige Verklärung. Der
Vater machte sich die Freude, wenn
ein Bild mit einem dem Kinde noch
unbekannten Gegeustande nahte, ihm
diesen im Laufe der Woche crst in
Wirklichkeit zu zeigen. So ging
er mit ihm in eine Mühle, eine
Schmicde usw., und wenn dann
am nächsten Sonntag diese Stätten
mit ihren Menschen und ihrem
Treiben im Bilde erschiencn, so
war im Wiedererkennen des Kin-
des Freude doppelt grojz. Aber
die Freude blieb nie am Gegen--
stande allein haften, sie umfing
stcts auch die Stimmuug, den Ge-
halt des Bildes mit. Weilte beim
Betrachten zunächst Blick und Ge°
müt auf den Hauptträgern dieses
Gehaltes, so wies der Vater dann
allmählich auch hin auf die Fülle
schöner Einzelheiten im Umkreis
und ließ das Kind selber suchen,
was es mit großem Eifer tat,
jeden entdeckten neuen Zug mit
Entzücken bcgrüßend. Und dieses
fröhliche Suchen blieb ihm fortan
eigen. Als vier Iahre später in
seinem achten Lebensjahre Dürers
Randzeichnungen zu Kaiser Maxi-
milians Gebetbuch sein Lieblings-
buch geworden, war es ihm einc
immer neue Lust, vom Ausatz-
punkte des Stiftcs dcs Künstlers
aus dem Linienzuge zu folgen und
zu sehn, welche Fülle von Gerank
und Getier aus der Liuie wnuder-
bar herauswuchs. So cmpfand es
bei den letzten Bildern des Werkes
gleich, daß diese nicht von Dürers
Hand herrührten; und als ihm
einmal beim Geschichtsuntcrricht
ein Bilduis in Kupferstich von

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