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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

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Heft 19 (1. Juliheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0045
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aber kann eine ähnliche Wirkung
zustande konnnen, wenn die Naum-
regie von vornherein sich anf das
unbedingt Nötige beschränkt; dann
allerdings darf das Wenige, das
sie bietet, erst recht nicht durch
Stilwidrigkeiten beleidigen. Dies
ist die Seite, auf deren äußerstem
Flügel die Freilichtbühne steht.
Baum und Strauch, in weiterer
Amgebung Berg und Wald unter-
werfen sich nicht dem Regisseur,
sie verharren und geben den
Grund, von dem das Spiel sich
abhebt, mag es nun „in der
Halle", „vor der Halle" oder „in
der Höhle" oder „am Stromesufer"
vor sich gchn. Sie beleidigen aber
nicht, denn sie können nicht an
irgendeine stilwidrige Negieabsicht
erinncrn. Im günstigen Falle —
darin kann man Lorenz wohl bei-
stimmen — stärken sie dagegen
durch ihre Natureindrücke die
großen, von der Dichtung geweck-
ten Gefühle und weiten sie aus.
Wie weit muß man nun auf
diescm Nicht-Illusionstheater den-
noch dem Illusionsbedürfnis ent-
gegenkommen? Das läßt sich wohl
nicht kategorisch, läßt sich wohl nur
von Fall zu Fall beantworten.
Lorenz hat auf seiner Naturbühne
eine künstliche Höhle, eine geschlos-
sene Hütte, eine Halle und einen
„Turm", ein mehrstöckiges Ein-
zimmergebäude, das aus einer
Schlucht aufragt und durch eine
Fallbrücke mit dem Spielraum
verbunden ist. Das mag wenig
scheinen, zumal die Gebäude ohne
Stil, ich meine: neutral gehalten
sind. Für mein Gefühl ist es schon
fast zuviel. Aber um noch mehr
entbehrcn zu können, müßten wohl
die schauspielerischen Leistungcn auf
einer Höhe der Eindruckstärkc
stchen, wie sie ohne große Mittel
nicht zusammengcbracht wcrdcn
können; darin licgt die Variabilität

der Illusionsanforderungen be-
gründct. Und damit ist zugleich
die zweite Erfahrung angedeutet,
die an der Freilichtbühne gemacht
werden kann: hier wo die Raum-
regie zurücktritt, ist die Dichtung
ganz dem Darsteller anheimge-
geben. In einer Umgebung von
Natur wirkt das auf Theaterreso-
nanz berechnete Pathos schlechter-
dings gar nicht. Die Freilicht-
bühne zwingt zu einer vertieften
Darstellungsweise; im wcsentlichen
zu einem aktiveren Leben und einer
natürlichercn Sprache. Man wird
hier empfindlicher gegen Unnatur
als im Bühnenhaus, da hier die
Natur selbst nicht entfernt ist. Auch
körper- und sprechtechnisch stellt
die Freilichtbühne ungemcin hohe
Anforderungen, wie sie anderseits
das Gefühl für Mängel in dieser
Nichtung verfeinert. Denn es
herrscht nicht die lautlose Stille
des geschlossenen Raumes, und die
weitcn Räume erfordern mit ihren
zahlreichen Stellungs- und Ve°
wegungsmöglichkeiten eine uner-
hörte Lebhaftigkeit des körperlichen
Mitgestaltens, das anderseits auch
durch dcn Mangel an Illusions-
hilfe herausgcfordert wird; man
spielt eben nicht nur ohne Schminke
und Trikot, sondern auch ohne
die zahllosen Verdeckungen, Ver-
schleierungcn, Vcrdunkelungen des
geschlossenen Raums.

Sind dies alles nun Vorzüge
der Freilichtbühne, so könnte gefragt
werden, warum so wenige Freilicht-
thcater bestehen und die bestchen-
den so wcnig bekannt sind. Nun,
es wird immer genug Stücke von
Wert geben, die auf der Freilicht-
bühne nicht wirken, vor allem aber
immer wertlose Stücke, Kassenstücke
und Sensationstücke, die dort uichts
„machen". Ls fehlt am Anreiz für
die Masse, so lange die Masse nicht
zur echten Kunst ein näheres Ver-

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