Was drückt ein Gesetz aus? Fm
Despotenstaatchen den Willen des
Herrn; im Herrenkleinstaat die über-
einstimmenden Willen der Herr--
schenden; was aber im Volksgroß-
staat? Formal: den übereinstim-
menden Willen von Regierung und
Volk — aber dieser Wille ist eitel
Vorstellung —; sachlich: den Willen
seiner Techniker. Der aber ist von
besonderer Art. Er ist nicht ur-
sprünglich wie der des Despoten;
sein Inhalt bildet sich nicht in ihren
Herzen, ihren Sittlichkeiten, son-
dern in ihren Köpfen, in ihrem
Verstande. Sie wollen eine Le-
bensordnung schaffen, die einem
Zweck entspricht, der unabhängig
von ihrer eigenen, wie immer ge-
richteten, vielleicht gar nicht vorhan-
denen Lebenssehnsucht besteht, also
einem objektiven Zweck. Die-
ser objektive Zweck kann nun für
den modernen Volksgroßstaat in
idealer Weise etwa bestimmt werden
als dcr einer Volks- oder Mensch-
hcitserhöhung durch Gewährung der
Möglichkeit an alle einzelnen, alle
ihre Kräfte aufs vollkommenste zu
entwickeln.
Die Erfahrung scheint nun zu
lehren, daß dieser Zweck der Mensch-
heitserhöhung erfordere, die Auße-
rungen gewisser gemeinschädlicher
Sittlichkeiten und Sitten durch Zu°
fügung von Abeln Zu ahnden, zu
strafen. Denn die Androhung
von Strafen warnt und schreckt all-
gemein, die Vollziehung sichert die
Menschheit vor Untat, schreckt
von Wiederholung ab, bessert auch
wohl. Obgleich nun der Vorentwurf
anerkennt, daß die Strafe in diesen
Richtungen wirken kann und auch
wirkt, betrachtet er sie grundsätzlich
als Vergeltung.
Was ist Vcrgeltung? Zunächst
einmal nichts weiter als eine Wcch-
selwirkung des Ichgefühls. haue
ich einem Feigling eine Ohrfeige,
so greift er nach der Backe und
heult. Haue ich sie einem Men-
schen von Ichgefühl, so zahlt er mir
mit gleicher Münze. Hat er zu°
gleich Menschheitsbewußtsein, so
wird er unter Umständen nicht ver-
gelten, sondern etwa mich beschä-
men. Es kann aber auch vorkom-
men, daß er ohne Menschheitsbe-
wußtsein nicht vergilt: Abermacht
des Gegners, Sitte, Gesetz mögen
ihn daran hindern. Dann erzeugt
das Ichgefühl statt lodernder Ver-
geltung schwelende Rache; Nietz-
sches Ressentimentmenschcn entste-
hen, und ihre sonnenloseu Sittlich-
keiten erfinden staatliches und selbst
göttliches Vergeltungsstraf-
recht. Dann verheißt der Gesetz-
geber: Auge um Auge, Zahn um
Zahn; dann setzt man auf Mord
Tod, auf Notzucht Entmannung,
auf Ehebruch — ja, wie soll man
zum Beispiel den gleich artig stra-
fen? Törichte Fragc: Schon dann
wird das Verbrechen, die Negation
des Rechts, ausreichend negiert, also
die Gerechtigkeit positiv wiederher-
gestellt, wenn die Strafe gleich-
wertig ist.
Es bedarf keines Beweises, daß
ein solches Vergeltungsstrafrecht
keine Ausdruckskultur ist; es ver-
hängt seine Abel ja nicht, um die
! Menschheit zu erhöhen, die Ver-
HLngung von Abeln ist ihm Selbst-
zweck: punilur, guia pLLLLkum esk.
Alles Vergeltungsstrafrecht ist also
grundsätzlich ohne Wert für die
Menschheitserhöhung, ja es kann
ihr geradezu entgegenwirken und
hat es oft genug getan.
Woher kommt es nun aber, daß
der finstere Vergeltungsgedanke aus
dem Strafrecht noch immer nicht
schwinden will? Einmal weil du
und ich und jeder Linzelmensch von
Ichgefühl voll von ihm und deshalb
geneigt ist, die Wechselwirkung des
eigenen Ichgefühls auf den Staat
h Oktoberheft WO
73
Despotenstaatchen den Willen des
Herrn; im Herrenkleinstaat die über-
einstimmenden Willen der Herr--
schenden; was aber im Volksgroß-
staat? Formal: den übereinstim-
menden Willen von Regierung und
Volk — aber dieser Wille ist eitel
Vorstellung —; sachlich: den Willen
seiner Techniker. Der aber ist von
besonderer Art. Er ist nicht ur-
sprünglich wie der des Despoten;
sein Inhalt bildet sich nicht in ihren
Herzen, ihren Sittlichkeiten, son-
dern in ihren Köpfen, in ihrem
Verstande. Sie wollen eine Le-
bensordnung schaffen, die einem
Zweck entspricht, der unabhängig
von ihrer eigenen, wie immer ge-
richteten, vielleicht gar nicht vorhan-
denen Lebenssehnsucht besteht, also
einem objektiven Zweck. Die-
ser objektive Zweck kann nun für
den modernen Volksgroßstaat in
idealer Weise etwa bestimmt werden
als dcr einer Volks- oder Mensch-
hcitserhöhung durch Gewährung der
Möglichkeit an alle einzelnen, alle
ihre Kräfte aufs vollkommenste zu
entwickeln.
Die Erfahrung scheint nun zu
lehren, daß dieser Zweck der Mensch-
heitserhöhung erfordere, die Auße-
rungen gewisser gemeinschädlicher
Sittlichkeiten und Sitten durch Zu°
fügung von Abeln Zu ahnden, zu
strafen. Denn die Androhung
von Strafen warnt und schreckt all-
gemein, die Vollziehung sichert die
Menschheit vor Untat, schreckt
von Wiederholung ab, bessert auch
wohl. Obgleich nun der Vorentwurf
anerkennt, daß die Strafe in diesen
Richtungen wirken kann und auch
wirkt, betrachtet er sie grundsätzlich
als Vergeltung.
Was ist Vcrgeltung? Zunächst
einmal nichts weiter als eine Wcch-
selwirkung des Ichgefühls. haue
ich einem Feigling eine Ohrfeige,
so greift er nach der Backe und
heult. Haue ich sie einem Men-
schen von Ichgefühl, so zahlt er mir
mit gleicher Münze. Hat er zu°
gleich Menschheitsbewußtsein, so
wird er unter Umständen nicht ver-
gelten, sondern etwa mich beschä-
men. Es kann aber auch vorkom-
men, daß er ohne Menschheitsbe-
wußtsein nicht vergilt: Abermacht
des Gegners, Sitte, Gesetz mögen
ihn daran hindern. Dann erzeugt
das Ichgefühl statt lodernder Ver-
geltung schwelende Rache; Nietz-
sches Ressentimentmenschcn entste-
hen, und ihre sonnenloseu Sittlich-
keiten erfinden staatliches und selbst
göttliches Vergeltungsstraf-
recht. Dann verheißt der Gesetz-
geber: Auge um Auge, Zahn um
Zahn; dann setzt man auf Mord
Tod, auf Notzucht Entmannung,
auf Ehebruch — ja, wie soll man
zum Beispiel den gleich artig stra-
fen? Törichte Fragc: Schon dann
wird das Verbrechen, die Negation
des Rechts, ausreichend negiert, also
die Gerechtigkeit positiv wiederher-
gestellt, wenn die Strafe gleich-
wertig ist.
Es bedarf keines Beweises, daß
ein solches Vergeltungsstrafrecht
keine Ausdruckskultur ist; es ver-
hängt seine Abel ja nicht, um die
! Menschheit zu erhöhen, die Ver-
HLngung von Abeln ist ihm Selbst-
zweck: punilur, guia pLLLLkum esk.
Alles Vergeltungsstrafrecht ist also
grundsätzlich ohne Wert für die
Menschheitserhöhung, ja es kann
ihr geradezu entgegenwirken und
hat es oft genug getan.
Woher kommt es nun aber, daß
der finstere Vergeltungsgedanke aus
dem Strafrecht noch immer nicht
schwinden will? Einmal weil du
und ich und jeder Linzelmensch von
Ichgefühl voll von ihm und deshalb
geneigt ist, die Wechselwirkung des
eigenen Ichgefühls auf den Staat
h Oktoberheft WO
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