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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1930)
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Heilbrunn, Ernst: Englische Nachkriegsliteratur, [1]: D. H. Lawrence
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0266
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GärungssLoffe des heutrgen Europa mit echtestem, ursprünglichstem englischen
Wesen vereinigte, er war gefährdet und gelockert genug, um ihnen allen aus-
geseht zu sein, aber auch wieder genügend „selber Faktum", um über sie hin-
auszukommen und, wenn auch nach verzweifeltem Kamgs, Friede zu sinden.
Er ist wirklich so etwas wie ein „Spektrum Europas"; ich kenne keinen euro-
päischen Schriststeller, nicht Gide, nicht Thomas Mann, bei dem man so
sehr spürte, daß er alles europäische Gestein aus seinen Erzgehalt hin beklopfte;
er ist nicht SchmaroHer und gewiß nicht Eklektizist, aber er ist wie einer, der
über unsere ganze Erde hin nach den Ausbruchsstellen des alken feurigen
Magma fahndek. Wollen spätere Generationen wissen (werden sie es wohl
wissen wollen?), welches der Sinn unseres ursprünglichsten Tastens und
Suchens gewesen, an Lawrence werden sie uns und unseren verzweifelten
Dogmenwust am ehesten enträtseln können.

So wird wohl schon ersichtlich, daß Lawrence kein Dichker in eigenem füg-
samem Lande ist, selig in poetischer Herrschaft und Genügen. Er ist das Ge-
schöpf verstricktester Problematik, verführerischer Bildung, um sich dann doch
in ein dämmeriges Reich von zugleich blaßglänzendem und drohendcm Früh-
lichk zu retten. Er ist ein begeisterker Chorbläser der Primitive, aber er ist
kein Romantiker. Denn dies unbestellte Land im Frühlicht ist kein Zauber-
garten, nichts von einer waldhorntönenden oder schäferlichen Idylle, Schädel
der Feinde wölben die Stämme des ungerodeten Waldes und die Götter
fordern Menschenopfer, ja es herrscht keineswegs Liebe, auch Eros regiert nicht,
Mensch und Tier und Gemeinde und Schöpfnng sind nichts als „mit sich im
Einklang". „Tcicht Liebe, aber ein Sichverstehen in Macht, Herrschaft und
einfach natürlichem Wesen. Mehr Einklang noch als Verstehen."

Der dies geschrieben, ist als Erotiker, ja als Sexualist ins östentliche Licht ge-
treten. Es scheint fraglich, ob er ohne diese Marke je zu solch einer grellen
Berühmtheit gelangt wäre, so daß die Frage: „Wie hältst Du's mit
Lawrence?" ungefähr eine Scheidung der Geister in England bewirkte. Man
sprach von Geschlcchtsbefessenheit, Erotomanie. Man meinte, er sei der Wet-
terstrahl, der in eine dicke und trockene Luft die Frische der erotischen Freiheit,
ja der erotischen Libertinage zu bringen berufen fei. Jn der Tat muß man
seine Romane zu lesen verstehen. Thematisch steht die Erotik an crster Stelle.
Llber troh immer wiederkehrenden atemheißen und verschwiegensten erotischcn
Gewoges (aber seltenen erotischen Erfüllungen!) will Lawrcnce den Eros in
seiner Herrschaft beschränkt wissen. Ihm gelten der Rausch, die Bision, die
männliche Aufgabe, das Freibeukertum, die Vagabondage sämtlich mehr als
die Licbe; entscheidend ist immer wieder und im Gegensah zur Liebe vor Rcue
bcwahrend der Rausch männlicher Tat. Und auch Lawrence bürgk dafür:
„Wer den verpöne, war nie geeinigk mit dem Höchsten Gott." Eros aber,
der Gott der Mitte Platos, von ihm weiß auch er: „Ganz unten und ganz
oben, nein, da ist etwas anderes. Liebe ist da nichk." Herrlich und der große
Befrcier ist er, indem er den Menschen wieder wirklich, „glihernd", glühend,
gespannt macht, aber er wird zum Moloch, wenn der Mensch Mtalität über-
haupt nur in ihm zu spüren vermag. Dann schießt plöhlich troh glühender
Liebe Haß im Menschen auf, wie ihn schon der große Priester der Liebe,
Goethe, kennt:

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