Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI Heft:
Heft 20 (2. Juliheft 1894)
DOI Artikel:
Bie, Oscar: Moderne Prosa
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0315
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
20. Dekt.

Lrscbctnt

Derausgeber:

Ferdinand Nvenartus.

Kesrellpreis:
vierteljährlich 2 i/z Mark.

Anzeigen: Z gesp. Nonp.-Aeile 40 ssf. -—-—

Moderne Drosn.

^or mir liegt ein „Sannnelbuch moderner Prosa-
dichtung", von Cäsar Flaischlen beim Berliner
Verein der Büchersreunde herausgedeben. Der
Vergleich drängt sich vor mit den „Musen-
almanachen", die Otto Julius Bierbaum als Sammelbücher
moderner Dichtung, namentlich Bersdichtung, herausgiebt.
Aber die Wirkung ist eine wesentlich andere. Jn dem
Almanach der Dichtung sindet sich neben wenigen ganz
ausgereiften Werken eine Gruppe uoch nicht reiser und
eine Gruppe schon überreifer Früchte. Und doch ist es
sür die Früchte der Dichtkunst sehr von Wert, daß sie
im richtigen Augenblick vom Baum genommen werden.
Diesen unter- oder übergährigen Charakter giebt sich die
Prosasammlung nicht. Sie macht einen zahmen Eindruck.
Sie stößt wenig an und wühlt wenig auf. Aber sie er-
weist sich als ein berechtigtes Unternehmen, und das giebt
ihr ein ungewöhnliches allgemeines Jnteresse.

Wenn man es aber mit Recht unternimmt, lauter
eiuzelne Prosastücke einer bestimmten Zeitperiode zu sammeln,
so muß vorausgesetzt werden, daß sie recht verschieden, recht
individuell sind und daß diese Verschiedenheit ein Cha-
rakteristikum des Zeitabschnitts ist. So verhält es sich in
der That, und diese Mannigfaltigkeit im Prosastil giebt
zu denken. Wir wissen, daß unsere Literatur zur Zeit
eine große Häutung durchmacht und daß neue Ausdrucks-
weisen, neue Stimmungsfelder entdeckt sind. Jn wie weit
spiegelt die moderne Prosa diese Wendung wieder?

Es giebt keinen eigeutlichen Fortschritt, keine sogenannte
Vervollkommnung in einer ausgewachsenen Literatur und
Kunst, es giebt nur den großen Wechsel von Pionirtum
und Epigonentum. Jede Zeit ist von sich geblendet. Aber

man darf unterscheiden zwischen Perioden, die sich eigen
sinniger mit der Uberlieferung begnügen, und solchen, die
schneller dem Neuen zustreben, das doch immer siegt. Jene
gähnenden Epigonenzeitalter haben in der That etwas Ab-
stoßendes, sind ein Minus der Literaturgeschichte.
Positive Förderung bedeutet eine sehnsüchtige Erwartung
und eine kräftige Ausgestaltung neuer Pionirarbeit. Die
Zeiten, welche eine unmöglich gewordene Tradition schneller
überwinden als andere, gewinnen unsere Liebe. Nur dieses
Geschäft besorgt die Geschichte: sie gleicht Gewohnheiten
und Bedürfnisse aus — schneller oder langsamer. Unsere
Zeit gehört zu denen, die das Unumgängliche nicht dem
Fatum überlassen, sondern kräftig ins Rad der Entwicklung
eingreifen. Das ist ein entschiedener Vorzug, den man
niemals verkennen soll.

Die moderne Literatur hat dieses selbstthätige Förderungs-
werk mit so großem Eifer in die Hand genommen, daß
sie denselben heftigen Widerspruch erfahren hat, den alle
mannhaften Pionirthaten auf dem Gebiete der Kunst er-
fahren. Man beruhigt sich jetzt etwas und kann das
Geschehene schon besser überblicken. Es zeigen sich nicht
bloß die Brücken der Versöhnung, es zeigt sich auch, daß
von dem neuen Geiste unmerklich und ost unsreiwillig ein
Tropfen Blut in alle, alle Adern gedrungen ist. Die
Rohheiten des ersten Realismus waren ja, ästhetisch ge-
nommen, gar keine Rohheiten, da es für die Kunst kein
Hoch und Niedrig in den Lebensvorgängen giebt. Sie
waren es aber allerdings, allgemein menschlich genommen.
Man wird sich also zu ihnen stellen, je nachdem man eine
mehr puritanische oder eine mehr ethische Auffassung von
der Kunst hat. Überwunden sind sie zweiselsohne, aber


Lvveites Zuli-Dett 1894.

- 30S —
 
Annotationen