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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

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Heft 12 (Septemberheft 1922)
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Schumann, Wolfgang: Geschlechtstrieb: dritter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0386
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schlechtstrrebes —, dieser sei heute zugleich sinnlos beschränkt und sinnlos
gereizt. Die Umschränktheit des Triebes hängt vielleicht zum Teil zu-
sammen mit dem allgemeinen Charakteristikum unseres Lebens, das man
Zeit-Iosigkeit nennen kann; niemand „hat Zeit", und für nichts haben
wir sie; der mächtigste unserer Triebe findet in unserem Leben nicht Ge-
legenheit, sich frei und in ihm angemessener Art zu entfalten und sein Spiel
zu treiben; verdrückt und beiseite geschoben, nie mit Sorgsamkeit —
obzwar mit widerwilliger, gehemmter Spannung und erhitzter Aufmerk-
samkeit — beachtet, findet er im Ablauf unserer alljährlichen und all-
täglichen Geschäfte keine Stunde, die ihm allein und zu ungemindertem
Recht gehörte. Amd er rächt sich dafür durch Anruhestiften, Angst- und
Furchterregen und gewaltsame Explosionen. Indes, dieser wie jeder andre
hemmende Tatbestand der Sitte und Ordnung geht zurück auf geistige
Einstellungen, die die Arsache aller Ordnung sind. Und hier liegt denn
die Grundsünde der Gesellschaft. Nicht wider „die Natur" ist sie gerichtet;
denn Natur ist vieldeutig und chaotisch und wer eine geschlechtliche Hand-
lung damit rechtfertigte, daß sie doch „ganz natürlich" sei, gebraucht ein
Beweismittel, das auch dem grauenvollsten Nnfug zugutekommen kann.
Nein, die Sünde richtet sich wider den Geist und die Freiheit, mit der
Geist alles und so auch den Geschlechtstrieb zu betrachten und zu richten
hat. Das aber hat irrende und verkehrte Moral seit Iahrhunderten ver-
boten. Nicht allein Wucherung und Ausschreitung des Triebes ward
verpönt, nicht allein sein Treiben und Spielen schlechthin als unerlaubt und
unwürdig gegeißelt, sondern sogar die ruhige, sachliche und eindringliche
Betrachtung seines Wesens verfemt. Nnd wenn selbständigere Geister
heute längst all solche Fesseln abgestreift haben, so umstricken sie dennoch
heute nicht allein unsere Sitte, welche noch immer der Ausdruck abge-
taner Geistigkeit ist, sondern auch die Geistigkeit selbst. Wie Wenige sind
wirklich frei von Hemmungen in der Betrachtung des Geschlechtslebens,
wie Wenige wagen ihn zu nennen, zu überdenken, zu billigen, soweit denn
reiner Geist ihn bilsigen mag. Nnd wo es geschieht, in jenen vermeintlich
so „freien" Kreisen in oder außerhalb der „Gesellschaft", wie tief steckt auch
da noch die alte Nnfreiheit in Ausdruck, Gebärde und Tonlage; das lüsterne
Lächeln, mit dem Zoten erzählt werden, die allzu betonte, auftrumpfend-
widerspruchstolze Gebärde des Flirts, der sich entfaltet, als ob damit nun
eine Tat der Freiheit begangen sei — wie weit sind sie entfernt von der
Gebärde echter und besonnener Freiheit, wie weit von der Heiterkeit, dem
Rausch und der hellen Lust, welche uns die Spiegel gesellschaftlichen Lebens
kühnerer und reiferer Gesellschaften bezeugen — ich denke vornehmlich an
die Antike. Daß wir den Geschlechtstrieb geistig unfrei und unwissend
nehmen, anstatt ihn ohne Vorurtsil und mit heiterem Ernst zu nehmen,
daß wir ihn verleugnen und verquetschen — das ist die Sünde. Darum
haben wir keine Kunst der Erotik und sehen in hilfloser Verirrung tausend
Ehen zerschellen, darum haben wir neben wenigen lebenswerten tausend
verlogene Ehen, darum jene Atmosphäre von Heuchelei, Dummheit, Furcht
und Äberreiztheit einerseits, von Scheinfreiheit, Nnwissenheit, Lüsternheit
und Verantwortunglosigkeit anderseits, in der heute die Gespräche über
Erotik und die Erotik selber sich abspielen.

Am Beginn einer Erneuerung — mag immerhin auch ohne solche diese
oder jene Sitte oder Einrichtung schon vorher verändert werden — kann
nur die Anerkenntnis stehen, daß Geschlechtstrieb nicht Zweckeinrichtung
 
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