DIE DICHTUNG UND DIE BILDENDE KUNST
Märchen scheint Hauptmann — unbewußt viel-
leicht — seine Berufung zum Dichter gestaltet
zu haben. Ihn drängte seine Wesenheit schließ-
lich ab von der formenbildenden Kunst; aber
daß er ihr einst diente, daß er sehen und aus
dem Sehen heraus unmittelbar formen lernte,
hat ihn zweifellos zu dem starken und sicheren
Dramatiker gemacht. Gerade für ihn, dessen
weithinschweifende Phantasie, dessen Reichtum an
großen Visionen sich gar oft einer festen Gestaltung
widersetzte, war die Bildhauerei eine unschätz-
bare Unterstützung. Was wir heute am meisten
in seinen Schöpfungen bewundern, die in ihnen
sich offenbarende Anschauung, die Plastik seiner
Gestalten, all das verdankt er zweifellos seinen
bildhauerischen Versuchen. Und Hauptmann
selbst fühlt das; immer wieder sind bildende
Künstler die Helden seiner Dramen; Michael
Kramer, der ernst und verschlossen ringende
Maler; Kollege Crampton, der auf dem Plafond
eines Konzertsaales den Naturlaut darstellen
will, und Gabriel Schilling, der sein Künstler-
tum wie sein Menschentum an die Weiber ver-
liert. Diese Wahl seiner Gestalten ist keineswegs
ein äußerlicher Zug, sondern ein zuinnerst mit
seiner Entwicklung verknüpfter. In seinem
jüngsten Roman „Atlantis" schildert Hauptmann
mit ganz besonderer Anteilnahme Friedrich von
Kammachers, des aus seelischer Wirrnis sich
befreienden Arztes, Versuche, aus feuchtem Ton
Formen zu bilden. Wie innig verwandt Haupt-
manns Dichtung mit der bildenden Kunst ist, dafür
zeugt nicht zum wenigsten jenes geniale Bild-
nis vom Rittnerschen Florian Geyer, das Lovis
Corinth malte und dem eine so wundersame
Wirkung und Eindruckskraft eignet, daß man
sich bei seiner Betrachtung kaum Rechenschaft
darüber ablegen kann, ob man mehr die herr-
liche Dichtung, den unvergleichlichen Schau-
spieler oder den großen Maler bewundert.
Hauptmann ist nicht der einzige Dichter,
dem Beschäftigung mit der bildenden Kunst
Anregungen geschenkt, auf den sie entscheidend
eingewirkt hat. Wir erinnern uns lebhaft jener
Studien im Radieren, denen der junge Leipziger
Rechts- und Weltstudent Goethe bei dem Kupfer-
SILBERNE KANNE
THEODOR WENDE-DARMSTADT
713
Märchen scheint Hauptmann — unbewußt viel-
leicht — seine Berufung zum Dichter gestaltet
zu haben. Ihn drängte seine Wesenheit schließ-
lich ab von der formenbildenden Kunst; aber
daß er ihr einst diente, daß er sehen und aus
dem Sehen heraus unmittelbar formen lernte,
hat ihn zweifellos zu dem starken und sicheren
Dramatiker gemacht. Gerade für ihn, dessen
weithinschweifende Phantasie, dessen Reichtum an
großen Visionen sich gar oft einer festen Gestaltung
widersetzte, war die Bildhauerei eine unschätz-
bare Unterstützung. Was wir heute am meisten
in seinen Schöpfungen bewundern, die in ihnen
sich offenbarende Anschauung, die Plastik seiner
Gestalten, all das verdankt er zweifellos seinen
bildhauerischen Versuchen. Und Hauptmann
selbst fühlt das; immer wieder sind bildende
Künstler die Helden seiner Dramen; Michael
Kramer, der ernst und verschlossen ringende
Maler; Kollege Crampton, der auf dem Plafond
eines Konzertsaales den Naturlaut darstellen
will, und Gabriel Schilling, der sein Künstler-
tum wie sein Menschentum an die Weiber ver-
liert. Diese Wahl seiner Gestalten ist keineswegs
ein äußerlicher Zug, sondern ein zuinnerst mit
seiner Entwicklung verknüpfter. In seinem
jüngsten Roman „Atlantis" schildert Hauptmann
mit ganz besonderer Anteilnahme Friedrich von
Kammachers, des aus seelischer Wirrnis sich
befreienden Arztes, Versuche, aus feuchtem Ton
Formen zu bilden. Wie innig verwandt Haupt-
manns Dichtung mit der bildenden Kunst ist, dafür
zeugt nicht zum wenigsten jenes geniale Bild-
nis vom Rittnerschen Florian Geyer, das Lovis
Corinth malte und dem eine so wundersame
Wirkung und Eindruckskraft eignet, daß man
sich bei seiner Betrachtung kaum Rechenschaft
darüber ablegen kann, ob man mehr die herr-
liche Dichtung, den unvergleichlichen Schau-
spieler oder den großen Maler bewundert.
Hauptmann ist nicht der einzige Dichter,
dem Beschäftigung mit der bildenden Kunst
Anregungen geschenkt, auf den sie entscheidend
eingewirkt hat. Wir erinnern uns lebhaft jener
Studien im Radieren, denen der junge Leipziger
Rechts- und Weltstudent Goethe bei dem Kupfer-
SILBERNE KANNE
THEODOR WENDE-DARMSTADT
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