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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0038
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18 Ein Heft meines Vaters aus Schoenleins Klinik 1819—1820.

Das Heft verzeichnet 84 Kranke mit Angabe ihrer Krankheiten, die mein
Vater in dem einen Monat August 1820 in den Salen Schoenleins
gesehen hat. — Der junge Lehrer verwertete seinen klinischen Reichtum
mit genialem Geschick. Er führte den Schülern möglichst viele Krank-
heitsbilder vor, sie mnßten selbst untersuchen, die Diagnose stellen,
die Behandlung vorschlagen; dabei grisf er anleitend, erläuternd, ver-
bessernd in anregendster Weise am rechten Fleck ein und erhielt seine
Zuhörer in fortwährender Spannung. Das Heft nennt die Vorstellungen
der Kranken wiederholt Disputationen, sie trugen oft fast den Charakter
ärztlicher Konsilien.

Ein solches Konsilium sei als Beispiel mitgeteilt. Am 8. Jnli
1820 kam ein Mädchen mit aufgetriebenem Unterleib und starken
Pulsationen ,chn soi-odienlo oor-äm"*) in die Klinik. Am 9. Jnli
wurde „die Dispntation über diesen on8N8" abgehalten. Der Praktikant,
ein kühner Diagnostiker, erklürte den Fall ohne weiteres für ein
i-^8inn**) der Milzarterie. „Die meisten sielen ihm bei," bemerkt
mein Vater, „aber ich teilte diese Ansicht nicht, die Kausalmomente" —
wir würden heute ^.nnmno^o sagen — „und die Konstitution der Kranken
sprachen dagegen, ich meinte, das Klopfen rühre von Obstruktion***)
her." Schoenlein teilte diese Ansicht. Es gebe vier Ursachen solchen
Klopfens: Aneurysmen, Obstruktionen, verhärtete Eingeweide, die auf
die Schlagadern, namentlich die Aorta, drückten, und die Hysterie.
Er kam dabei auch auf Herzklopfen zu sprechen, das von „Enizündung
des U1oxn8 oanciiaon8" herrühre, und erzählte einen Fall von geheiltem
Herzklopfen bei einem Mädchen nach abgelaufenem Typhus. Man
habe das Klopfen auf ein organisches Herzleiden zurückgeführt, er aber
habe diese Annahme bestritten, weil das Klopfen zn oft wechselte, und
weil jeder Witterungswechsel darauf Einfluß hatte. Nachdem man
Autenriethsche Salbef) eingerieben habe, sei das Mädchen in 6 Wochen

*) Jn der Herzgrube, also in der oberen vorderen Magengegend unter
dem Brustbein.

**) Eine Pulsadergeschwulst.

***) Verstopfung.

ch) Pnsteln bildende Brechweinsteinsalbe, noch in den vierziger Jahren
viel angewendet.
 
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