Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0043
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Früheste Erinnerungen.

23

Alles andre, was sich an die Verbrühung angeschlossen haben
muß, ist in der Erinnerung nicht haften geblieben, nur diese beiden
Augenblicke bleiben unauslöschbar beleuchtet. Als objektives Zeichen
behielt ich eine narbige Vertiefung am Scheitel, die das Haupthaar
von den Rändern her überdeckt.

Eine spätere Erinnerung, vermutlich aus dem fünften Jahre, bietet
Freunden der Seelenkunde ein Problem zur Lösung in müßiger Stunde.

Die Beweggründe der Seele des Kindes beim Reden und Handeln
sind meist durchsichtig, doch giebt es Ausnahmen, wo sie dunkel bleiben.
Obwohl ich im ganzen lenksam war, so zeigte ich, a-ls ich meine ersten
Gebete lernen mußte, einen unbegreiflichen Starrsinn. Meine Mutter
hatte mich die zwei bekannten kleinen Gebete gelehrt, das Tischgebet:
„Komm Herr Jesus, sei unser Gast" u. s. w. und das Abendgebet
im-Bette: „Jch bin klein, mein Herz ist rein" u. s. w. Das Tisch-
gebet sagte ich ganz richtig her, aber vor das Abendgebet setzte ich
regelmäßig die Anrede: „Büble!" Jch betete: „Büble! Jch bin klein,"
mochte meine Mutter mir es noch so ernstlich verweisen, zürnen und
mich strafen. Von dem Büble ließ ich nicht, es stand leibhaftig vor
mir, sobald ich das Abendgebet hersagen mußte, es hatte meine Größe
und Gestalt, es sah einmal aus wie das andremal nnd hörte mir aus-
merksam zu, wie ein guter Spielkamerad; zweifelsohne interessierte es
sich für meine erfreuliche Mitteilung, daß ich klein und mein Herz
rein sei. — Bekannte, mit denen ich das Problem besprach, meinten,
ich hätte mir unter dem Büble das Christkind vorgestellt, ich hätte ja
bei Tisch das Gebet an Jesus gerichtet, aber diese Hypothese ist un-
richtig. Der Herr Jesus war sür mich kein Büble, sondern ein freundlicher
Mann mit einem Kelch in der Hand, genau so wie sein Bild an der
Wand hing, und verschieden von dem Christkind, das auch sicher kein
Büble war, sondern ein Mädchen, denn kurz vor Weihnacht war es
in weiblichem Gewand mit Schleier und Rute in das Zimmer ge-
kommen, hatte mich mit feiner Stimme ermahnt, folgsam zu sein, und
mir goldene Nässe und Aepfel beschert. — Zu meinem großen Ver-
druß ist es mir bis heute nicht gelungen, das Rätsel sicher zu lösen;
nur eins ist gewiß, das Büble war das Kind einer lebhaften Ein-
bildungskraft, ein Phantasma.
 
Annotationen