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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0090
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Das Heidelberger Lyceum.

setzten es ins Deutsche. Da er nie ein erlüuterndes Wort dazu sprach,
so war diese sog. Religionsstunde nichts als eine weitere griechische
Stunde, und wir hätten ebensogut den Hesiod mit ihm lesen können.
Sie unterschied sich von den anderen lediglich durch das Gebet, was
ihr vorherging. Er hatte zwei Gebete verfaßt, die er abwechselnd
auf dem Katheder vorlas, das eine schloß mit den Worten: „hegen
mögen", das andere mit „Glauben rauben." Nach dem Amen erhob
er das gesenkte Hanpt und schaute andächtig zur Stubendecke.

Als er nun eines Morgens gerade das „hegen-mögen-Gebet",
wie wir es nannten, geendet hatte und in gewohnter Weise zur Decke
aufsah, blieb er starr vor Entsetzen. Ueber dem Katheder tanzte eine
lustige Figur aus steifem Papier in der Luft. Ohne ein Wort zu
verlieren eilte er sort und holte den ersten alternierenden Direktor,
der alsbald kam nnd mit gelassenem Ernste den Frevel beschaute.
Eine Untersuchung folgte. Der Thäter, der älteste und roheste
Schuler der Klasse, wurde rasch zum Geständnis gebracht. Mit Hilfe
eines feuchten Ballens gekauten Papiers am Ende eines Fadens,
woran er die Figur befestigt, hatte er sie kurz vor Beginn der Stunde
geschickt uber das Katheder an die Decke geschleudert. — Die Direk-
toren beriesen eine Konferenz sümtlicher Lehrer, nnd der Missethäter
wurde ausgestoßen.

Pedanten sind beliebte Zielscheiben mntwilliger Jungen. Der
alte Herr verstand es wenigstens, sein Ansehen bei der Jugend
durch seine ernste Würde so zu wahren, daß nur die frechsten
Burschen sich an ihn wagten. Schlimmer erging es einem andern
unserer Lehrer. Der Unglnckliche, im übrigen ein wohlmeinender
Mann, hatte ein reizbares Temperament und explodierte wie trockenes
Pulver auf die albernste Neckerei hin, obwohl er bereits in den
Fünfzigen stand. Die Jungen benützten deshalb jede Gelegenheit, ihn
„grün und blau" zn ärgern. Ließ er sich zuletzt dazu hinreißen, sie
mit Kosenamen, wie „Troßbuben, Stallknechte, Pferdejungen" u. dgl.
zu belegen, so war ihr sehnlichster Wunsch erfüllt, und sie nickten
einander befriedigt zu.

Direktor Brummer leitete die oberste Klasse. Er stand im Rufe
eines guten Philologen und wurde von den Schülern sehr respektiert; aber
 
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