Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0189
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Neckarblind.

169

„eine sehr vorangeschrittene Richtnng" im philosophischen Denken be-
deutet und in den politischen Bestrebungen, von denen Südwestdeutscb-
land damals erfullt und erregt gewesen. Bei der Aufnahme in den Bund
habe eine gewisse Ausschließlichkeit geherrscht, „da die Grundsätze stark
gepflegt wurden. Wir lasen Feuerbach, Bruno Bauer, Strauß,
Spinoza, erfrenten uns an allem, was im Sinne der deutschen Frei-
heit an die Oeffentlichkeit trat in gebundener oder womöglich recht un-
gebundener Rede. Wir verfolgten aufmerksam die Vorgünge in Frank-
reich, und Louis Blancs Geschichte der zehn Jahre wnrde mit dem gleichen
Eifer studiert, wie Carlyles Gcschichte der französischen Revolution."

Die merkwürdigste Persönlichkeit, die dem Neckarbunde beitrat,
war sedenfalls Peter Michel, ein Stndent der Philosophie, der von
Bamberg frisch auf die Hochschule gekommen war, der Sohn eines
baierischen Offiziers. Er hatte sich auf der Schule beim Turnen einen
Abseeß des rechten Psoasmuskels im Unterleibe zugezogen und lange
Zeit Bett und Zimmer hüten müssen. Noch immer erinnerte seine ge-
beugte Haltung und die fast leichenhafte Bläße seines Gesichtes an
die überstandene schwere Krankheit. Er war eine auffallende Er-
scheinung: rabenschwarzes Haar hing ihm dicht nnd lang auf die
Schultern herab, seine Nase war in scharfem Bogen geschnitten, seine
dunkeln Augen glühten, er trug einen schwarzsamtenen polnischen
Schnürrock und weite Pnmphosen; ein kleiner schwarzer Bart begann
bereits Kinn und Wangen zu umsäumen. Jn seiner weichen fränkischen
Mundart erzählte er uns, nachdem er in der Alemannia heimisch ge-
worden war, daß ihn auf seinem langwierigen Krankenlager eine
wahre Lesewut befallen habe. Er las mit besonderer Gier, wie er
versicherte, philosophische Werke, Spinoza und Hegel, zuletzt Feuerbach;
von den Philosophen wandte er sich zu Proudhon und Fourier und
wurde ein eisriger Bekenner der neu aufgetauchten sozialistischen Lehre.
Er beschloß auf der Hochschule Philosophie zu studieren und Apostel
des Sozialismus zu werdeu.

Warum er gerade Heidelberg, das sich damals keines hervor-
ragenden Philosopheu erfreute, für sein Studium aussuchte, weiß ich
nicht. Von den Vorlesungen des Ordinarius, Freiherrn von Reichlin-
Meldegg, war die besnchteste über Goethes Faust wenig mehr als
 
Annotationen