Die Mittelstadt
Zeichnung von Karl Holt*
Dreimal zehntausend Menschen sind entwachsen
Dem Häuserquirl. (Gleichviel wie Nürenberg
Zur Zeit von Dürer herbergt und Hans Sachsen.)
Und keiner hinterläßt ein kernhaft Werk,
Das Leben schleicht im vorgeschriebenen Trott,
Dem Spruch der Alten fügen sich die Jungen.
Wer Eigenes wagt, erliegt zuletzt dem Spott
Der gegen ihn vereinten Lästerzungen.
Das dieser Stätte Namen Dauer leiht,
Das einst ein Enkel wehmutsvoll betrachtet:
,,Ja, ja, das wiar die alte, gute Zeit . . .“
Hier wird nur Ware produziert, verfrachtet.
Stets äugen Sittenrichter durch Gardinen,
Fensterspione spiegeln Unmoral.
Hier hat die Sonne Liebe nie beschienen,
Doch im Familiendickicht rankt Skandal.
Hier trinken hundert Sekt, zehntausend darben.
Man schluchzt im Kino, stept zum Grammophon,
Und wenn, die heute leben, endlich starben.
Erbt auf die Kinder sich Fabrik und Fron.
Ein Femgericht liegt lauernd auf der Spur
Den Sündern, die in freier Liebe hurten.
Die Hebeamme kennt das Wachstum nur
Der außerehelichen Fehlgeburten.
Der Stammtisch diskutiert Deutschlands Genesung
Und anempfiehlt das Blut- und Eisenbad.
Mich aber peinigt der Geruch: Verwesung,
Betrete ich die deutsche Mittelstadt. Mich, von Lindenhecken.
613
Zeichnung von Karl Holt*
Dreimal zehntausend Menschen sind entwachsen
Dem Häuserquirl. (Gleichviel wie Nürenberg
Zur Zeit von Dürer herbergt und Hans Sachsen.)
Und keiner hinterläßt ein kernhaft Werk,
Das Leben schleicht im vorgeschriebenen Trott,
Dem Spruch der Alten fügen sich die Jungen.
Wer Eigenes wagt, erliegt zuletzt dem Spott
Der gegen ihn vereinten Lästerzungen.
Das dieser Stätte Namen Dauer leiht,
Das einst ein Enkel wehmutsvoll betrachtet:
,,Ja, ja, das wiar die alte, gute Zeit . . .“
Hier wird nur Ware produziert, verfrachtet.
Stets äugen Sittenrichter durch Gardinen,
Fensterspione spiegeln Unmoral.
Hier hat die Sonne Liebe nie beschienen,
Doch im Familiendickicht rankt Skandal.
Hier trinken hundert Sekt, zehntausend darben.
Man schluchzt im Kino, stept zum Grammophon,
Und wenn, die heute leben, endlich starben.
Erbt auf die Kinder sich Fabrik und Fron.
Ein Femgericht liegt lauernd auf der Spur
Den Sündern, die in freier Liebe hurten.
Die Hebeamme kennt das Wachstum nur
Der außerehelichen Fehlgeburten.
Der Stammtisch diskutiert Deutschlands Genesung
Und anempfiehlt das Blut- und Eisenbad.
Mich aber peinigt der Geruch: Verwesung,
Betrete ich die deutsche Mittelstadt. Mich, von Lindenhecken.
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