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Seemanns Weihnachten vor Maranhao

Eine durchaus ernsthafte Weihnachtsgeschichte von Joachim Ringel nah

Zeichnungen non Willi Steiner«

„Wo ist die Holzftraße?" fragte der Fremde den Hausknecht,
der aus der Tür ins weihnachtliche Schneien sah. Froheste Un-
geduld verlieh dabei dem Frager etwas, was auch seine mit
häßlichen Stricken gebändigten Gepäckstücke an sich hatten, einen
rührenden Ausdruck von Zum-Bersten-voll-sein. „Weiß nicht",
brummte der Hausknecht mürrisch, er hatte nur die drei schä-
bigen Säcke aus geteertem Segeltuch bemerkt. „Dann geben
Sie mir bitte ein Zimmer", sagte der fremde dreiste Kerl. Er
war hager, lang, an sich einfach, aber eigentlich sauber gekleidet.
Der Hausknecht führte ihn etwas milder nach einer Mansarden-
ftube. „Gibt es kein besseres Zimmer?" — „Nur teurere,"
erwiderte der Hausknecht. — „Dann her mit dem teuersten!"

Der fremde Mann erhielt also den Salon im ersten Stock-
werk des sächsischen Dorfhotels, und er gab zunächst dem Haus-
diener ein unerhört hohes Trinkgeld, zog dann den vielmals
sich bedankenden und sich ängstlich entfernenden noch einmal am
Ärmel durch die Tür zurück und sagte: „Hör mal! Ich werde
heute hier mit meiner Braut Weihnachten feiern, und dazu
brauche ich allerlei; würden Sie gegen gute Bezahlung — — ?"

Bald darauf stürzte der eifrige Diener mit mancherlei und
sonderbaren Aufträgen davon. Außer Lichtern, Leuchtern und
anderem sollte er auch drei Handbesen, ein Stück verschimmeltes
Brot, beste Schokolade, zwei Flaschen gefüllt mit verdorbenem
oder abgestandenem Bier und eine Wagendeichsel oder eine
ähnlich dicke Stange auftreiben. Kaum war er fort, so er-
schien der Wirt, stellte sich vor und fragte den fremden Herrn
nach Namen, Stand und so weiter. Gustav Wanten, See-
mann (und so weiter). Wohl eine halbe Stunde hielt sich der
Wirt bei diesem seinem einzigen Gast auf.

„Haft du je von einer Holzstraße gehört?" fragte er darauf
seine Frau. „Holzstraße, hier in Großhühnerbach? Nein."
— „Das ist ein eigentümlicher Gast. Der kommt aus Meriko
oder Gott weiß woher direkt hierher, um seine Braut zu be-
suchen." — „Wer ist denn die Braut?" — „Gott weiß wer.
Sie soll Bertha Stölzel heißen und hier in der Holzftraße
wohnen." Die Wirtin schüttelte den Kopf. Ihr Mann fuhr
fort im Bericht: „Er hat eine Flasche Rum bestellt und auch
gleich bezahlt; Geld scheint er zu haben." — So sprechend
schickten sich die beiden Eheleute an, den Weihnachtsbaum für
den Abend herzurichten und die Gaben für sich und das Per-
sonal aufzubauen; Kinder hatten sie nicht. Derweilen wurde
Herrn Wanten der Rum, die Deichsel und alles andere Ge-

wünschte gebracht. Man hörte ihn geraume Zeit Möbel rücken,
sägen, hämmern. Danach verschloß er sein Zimmer und ver-
ließ luftig pfeifend den Gafthof. — Zwei Stunden später kam
ei total verschneit und verdrießlich zurück, ging, ohne den unter-
tänigen Gruß des Hausdieners zu beachten, auf sein Zimmer.
Herr Wanten batte keine Holzftraße gefunden, niemand
kannte sie. Es gab in ganz Großhühnerbach keine Holzftraße,
auch nicht in Kleinhühnerbach.

Teils aus Neugier, teils aus Gefälligkeit hatte der Wirt
inzwischen ebenfalls und mit gleichem Resultat Erkundungen
eingezogen, und er brachte einen Stoß Postkarten mit beim,
die ihm der befreundete Postmeister eingehändigt hatte. Sie
waren alle von Wanten auö verschiedenen Ländern an Fräu-
lein Bertha Stölzel, Großhülmrrbach, Holzstraße 13, ge-
schrieben und vom Postmeister als unbestellbar im Laufe des
Jahres gesammelt worden. Das Zimmermädchen mußte die
Briefe zu dem Gast hinauftragen. „Er ist verrückt", sagte
sie, als sie zurückkam, „er spannt Wäscheleinen im Zimmer,
und die Rumflasche ist halb leer".

Nach der Bescherung unten wurde festlich getäfelt. „Denke
dir," sagte der Wirt, „er hat das Mädchen vor einem Jahr
in einem Hamburger Cafehaus kennengelernt und sie seitdem
nie wiedergesehen". — „Und damals haben sie sich gleich ver-
lobt?" — „Ja, er hat ihr einen goldenen Ring und Gott
weiß was alles geschenkt, und sie hat ihm einen vernickelten Huf-
eisennagel verehrt".

Eine Ziehharmonika klang auf. Der Seemann spielte und
sang. „Es zog mich an Bord" und dann andere Lieder, auch
solche in fremder Sprache. Lauter traurige, sentimentale Lie-
der. „Ich will ihn zu uns herunterbitten", meinte die Wirtin.
Auf dem Korridor begegnete sie ihm. Er würde kommen, aber
nur, wenn sie und ihr Mann und das Mädchen und der Haus-
diener vorher bei ihm eine Stunde Weihnachten feiern wollten.
So besuchten sic ihn alle aus Mitleid und Neugier. Der erste
Blick machte sie verstummen. Im Zimmer war Tauwerk ge-
spannt, daö die Wagendeichsel senkrecht wie einen Mast hielt.
In die Deichsel waren die Handbesen derart eingebohrt, daß
sie, die Haare nach unten, wie Nadelzweige vom Stamme
abragten, und auf diese Zweige hatte Wanten Lichter gesteckt,
die er nun feierlich entzündete. Er wies seinen Gästen Stühle
an und schenkte Bier in die Gläser. „Seht", sagte er, „so
wollte ichs meiner Braut vormachen. Es ist gut, wenn man

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