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CARPACCIOS ZEICHNUNGEN
(Tafel iv-a, b); das ebendort bewahrte Blatt mit einem liegenden Christuskinde (Tafel iii-c), das in
Technik und Strichführung wie auch im Ausdruck den frühen Werken Carpaccios sehr nahesteht und
eine Zuschreibung an ihn als möglich erscheinen läßt, dürfte der gleichen Kategorie zugehören;
jedenfalls ist es kein Entwurf für das Bild Bellinis im Fogg Art Museum zu Cambridge, Mass., sondern
eine Kopie nach dem Gemälde.
Die weitgehende Verwendung und Wiederholung solches in den Zeichnungen vorgeformten
Materials, welche der Beteiligung ausführender Gehilfenhände entgegenkommt, ist für die großen
Unternehmungen venezianischer Werkstätten von Bellini bis zu Veronese und Tintoretto und für
ihre kollektive Arbeitsweise durchaus bezeichnend 4 °; bezeichnend in engerem Sinne auch als Aus-
druck der mehr konservativ beharrenden Gesinnung Carpaccios, dessen Entwicklung sich ohne
wesenhafte Wandlungen vollzieht. Das Werk seiner späten Jahre ist von dem der Frühzeit graduell,
nicht grundsätzlich verschieden, sodaß sicli Rückgriffe auf ältere Lösungen neuen Zusammenhängen
ohne Bruch immer wieder einfügen lassen. Das gelegentlich etwas Spannungslose und Unverbind-
liche seiner Kompositionen liegt zu gutem Teil darin begründet; durch das Nebeneinander auswech-
selbarer, in sich geschlossener Einzelteile kommt es nicht leicht zu überzeugend dramatischer Aktion.
Trotzdem wäre es falsch, dieses als Mangel anzurechnen und im Werk des Künstlers etwas zu suchen,
was er zu geben nicht beabsichtigte. Wie ihm das Bild in erster Linie als ausgewogen komponierte
farbige Fläche wichtig war, so ist das Wesen seiner bedeutenden erzählerischen Begabung nicht
Drama, sondern eher novellistische Schilderung oder die lyrische Zuständlichkeit eines Augenblicks,
dessen Bedeutung im stillen Empfinden der handelnd und zuschauend Beteiligten beschlossen liegt;
keinem der venezianischen Zeitgenossen war dabei der Blick für die farbige Schönheit der Dinge und
ihr stilles Eigenleben so weit geöffnet wie ihm.
Ein Erlahmen des schöpferischen Impulses mußte bei so gerichteter Begabung rasch zum Kon-
ventionellen führen; sobald die Frische des erlebenden Auges nachzulassen beginnt und ein rechnender
Verstand allein die ihres ursprünglichen Sinnes entkleideten, bereits abgenutzten Bildelemente
zusammensetzt, fehlt es dem Ganzen an künstlerischer Überzeugungskraft. Carpaccio ist dieser
Gefahr in den Werken der letzten Jahre nicht immer entgangen. Der Entwurf zu einer Darstellung des
Tenipelgangs Mariä etwa (Florenz, Uffizien; Taf. 199) - vermutlich ein „modello", wie man es in
sorgfältiger Durchführung einem Auftraggeber vorzulegen pflegte - ist nichts mehr als eine Muster-
karte stereotyp gewordener Figuren aus dem Vorrat der Skizzenbücher. Mit diesen schaltete der
Sohn Benedetto dann geistlos, ohne eigene Erfindungskraft und Phantasie, in provinzieller Rückstän-
digkeit noch mehr als zwei Jahrzehnte nach seines Vaters Tode. 41
Carpaccios Schaffen erfüllt sich rein in den Grenzen der Generation seines Meisters Giovanni
Bellini, den er nur um wenige Jahre überlebt hat. Als er selbst starb, war die Zeit bereits über ihn
hinweggegangen; die Kunst einer jüngeren Generation hatte mit Tizians Assunta ihre ersten Siege
errungen, ein anderes, drängenderes Lebensgefühl hatte sicli in neuen Formen und Farben einen neuen
Ausdruck geschaffen.
40. H. Tietze u. E. Tietze-Conrat, The Drawings of the Venetian
Painters, New York 1944, Einleitung, und H. Tietze, Meister und
Werkstätte in der Renaissancemalerei Venedigs, in Alte und Neue
Kunst, Wiener Kunstwissenschaftliche Blätter I (1952), S. 89 ff.
41. Als bezeichnendes Beispiel für die Arbeitsweise Benedettos
mag die 1541 datierte Maria mit dem Kinde und den Heiligen Lucia
und Georg des Palazzo Comunale zu Pirano dienen (Taf. ix-c).
Alle drei Figuren wiederholen einzelne, aus dem Werk des Vaters
bekannte Gestalten: die Madonnengruppe das in San Giorgio
degli Schiavoni befindliche Bild (Taf. v-c), die heilige Lucia die
Temperantia des Museums zu Atlanta (Taf. 78), der heilige Georg
die gleiche Figur des Altarbildes in San Vitale (Taf. 177).
CARPACCIOS ZEICHNUNGEN
(Tafel iv-a, b); das ebendort bewahrte Blatt mit einem liegenden Christuskinde (Tafel iii-c), das in
Technik und Strichführung wie auch im Ausdruck den frühen Werken Carpaccios sehr nahesteht und
eine Zuschreibung an ihn als möglich erscheinen läßt, dürfte der gleichen Kategorie zugehören;
jedenfalls ist es kein Entwurf für das Bild Bellinis im Fogg Art Museum zu Cambridge, Mass., sondern
eine Kopie nach dem Gemälde.
Die weitgehende Verwendung und Wiederholung solches in den Zeichnungen vorgeformten
Materials, welche der Beteiligung ausführender Gehilfenhände entgegenkommt, ist für die großen
Unternehmungen venezianischer Werkstätten von Bellini bis zu Veronese und Tintoretto und für
ihre kollektive Arbeitsweise durchaus bezeichnend 4 °; bezeichnend in engerem Sinne auch als Aus-
druck der mehr konservativ beharrenden Gesinnung Carpaccios, dessen Entwicklung sich ohne
wesenhafte Wandlungen vollzieht. Das Werk seiner späten Jahre ist von dem der Frühzeit graduell,
nicht grundsätzlich verschieden, sodaß sicli Rückgriffe auf ältere Lösungen neuen Zusammenhängen
ohne Bruch immer wieder einfügen lassen. Das gelegentlich etwas Spannungslose und Unverbind-
liche seiner Kompositionen liegt zu gutem Teil darin begründet; durch das Nebeneinander auswech-
selbarer, in sich geschlossener Einzelteile kommt es nicht leicht zu überzeugend dramatischer Aktion.
Trotzdem wäre es falsch, dieses als Mangel anzurechnen und im Werk des Künstlers etwas zu suchen,
was er zu geben nicht beabsichtigte. Wie ihm das Bild in erster Linie als ausgewogen komponierte
farbige Fläche wichtig war, so ist das Wesen seiner bedeutenden erzählerischen Begabung nicht
Drama, sondern eher novellistische Schilderung oder die lyrische Zuständlichkeit eines Augenblicks,
dessen Bedeutung im stillen Empfinden der handelnd und zuschauend Beteiligten beschlossen liegt;
keinem der venezianischen Zeitgenossen war dabei der Blick für die farbige Schönheit der Dinge und
ihr stilles Eigenleben so weit geöffnet wie ihm.
Ein Erlahmen des schöpferischen Impulses mußte bei so gerichteter Begabung rasch zum Kon-
ventionellen führen; sobald die Frische des erlebenden Auges nachzulassen beginnt und ein rechnender
Verstand allein die ihres ursprünglichen Sinnes entkleideten, bereits abgenutzten Bildelemente
zusammensetzt, fehlt es dem Ganzen an künstlerischer Überzeugungskraft. Carpaccio ist dieser
Gefahr in den Werken der letzten Jahre nicht immer entgangen. Der Entwurf zu einer Darstellung des
Tenipelgangs Mariä etwa (Florenz, Uffizien; Taf. 199) - vermutlich ein „modello", wie man es in
sorgfältiger Durchführung einem Auftraggeber vorzulegen pflegte - ist nichts mehr als eine Muster-
karte stereotyp gewordener Figuren aus dem Vorrat der Skizzenbücher. Mit diesen schaltete der
Sohn Benedetto dann geistlos, ohne eigene Erfindungskraft und Phantasie, in provinzieller Rückstän-
digkeit noch mehr als zwei Jahrzehnte nach seines Vaters Tode. 41
Carpaccios Schaffen erfüllt sich rein in den Grenzen der Generation seines Meisters Giovanni
Bellini, den er nur um wenige Jahre überlebt hat. Als er selbst starb, war die Zeit bereits über ihn
hinweggegangen; die Kunst einer jüngeren Generation hatte mit Tizians Assunta ihre ersten Siege
errungen, ein anderes, drängenderes Lebensgefühl hatte sicli in neuen Formen und Farben einen neuen
Ausdruck geschaffen.
40. H. Tietze u. E. Tietze-Conrat, The Drawings of the Venetian
Painters, New York 1944, Einleitung, und H. Tietze, Meister und
Werkstätte in der Renaissancemalerei Venedigs, in Alte und Neue
Kunst, Wiener Kunstwissenschaftliche Blätter I (1952), S. 89 ff.
41. Als bezeichnendes Beispiel für die Arbeitsweise Benedettos
mag die 1541 datierte Maria mit dem Kinde und den Heiligen Lucia
und Georg des Palazzo Comunale zu Pirano dienen (Taf. ix-c).
Alle drei Figuren wiederholen einzelne, aus dem Werk des Vaters
bekannte Gestalten: die Madonnengruppe das in San Giorgio
degli Schiavoni befindliche Bild (Taf. v-c), die heilige Lucia die
Temperantia des Museums zu Atlanta (Taf. 78), der heilige Georg
die gleiche Figur des Altarbildes in San Vitale (Taf. 177).