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Ligeti, Paul
Der Weg aus dem Chaos: eine Deutung des Weltgeschehens aus dem Rhythmus der Kunstentwicklung — München: Callwey, 1931

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.67331#0096
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Hat es zur Deutung des Werdeganges einer ganzen Kultur mehr oder
minder hypothetischer Annahmen bedurft — so beweisen die kleinen Wel-
lengänge innerhalb der großen Kulturwelle zumeist in handgreiflicher Art
die Richtigkeit der Deutung. Der Unterschied ist dieser: im Laufe einer
Kulturwelle ist es die Gesellschaft, die sich auf baut und dann zerfällt.
Im Laufe der kleinen Welle geschieht dies mit irgendeinem Staatsge-
füge. Was sich also während der kleinen Welle abspielt, ist äußerlicher,
ist leichter bemerkbar. (Wurde auch bereits des öfteren bemerkt.) Und es
spricht sich dabei zumeist ganz deutlich aus, daß im architektonischen
Ast eine Ordnung, eine Macht entsteht, daß sie im plastischen Aste zur
kraftvollen Wirkung gelangt und im malerischen auseinanderbröckelt. Und
viel deutlicher als beim Leben der Kultur ist dabei zu erkennen, daß im
Laufe der kleinen Welle etwas erst arbeitsam angestrebt, sodann machtvoll
erreicht und endlich genießerisch leichtfertig verpraßt wird. Als auf ein
besonders eklatantes Beispiel sei auf die Ludwige Frankreichs hingewiesen.
Auf die erste, vorbereitende Zeit des Mazarin, die Jugend Ludwigs XIV.,
auf die glanzvolle Zeit seiner späteren Regierung und auf die genußsüchtige
Ludwigs XV. — Ganz allgemein kann gesagt werden: Sobald sich aus
einem Chaos eine neue Macht, eine neue Autorität herauszukristallisieren
beginnt, so kann man sicher sein, damit parallel eine architektonische
Wendung der Kunst vorzufinden. Wenn nach den Wirren des Tyrannen-
mordes Kleisthenes eine neue Staatsordnung aufrichtet, wenn nach den
Fehden der Triumvirate Augustus die Kaisermacht organisiert, wenn sich
auf Kosten der dekadenten Merowinger die Majordomusse festigen, wenn
nach dem chaotischen Interregnum die Macht des Habsburger Rudolf em-
porsteigt : dies alles sind Kristallisationserscheinungen, die weniger auf die
suggestive Kraft der einzelnen Herrscher, als auf eine allgemeine Sehnsucht
nach Ruhe und Ordnung zurückzuführen sind, und die eben darum in der
aufrichtigsten Beichte jeder Zeit: in ihrer Kunst — Ausdruck finden. Um-
gekehrt : sobald irgendein Gefüge zu zerbröckeln beginnt, die Teile auf
Kosten des Ganzen auseinanderstreben, wenn langwierige Staatskonflikte,
Bürgerkriege, revolutionäre Bewegungen bemerkbar werden: dann geht
damit, beinahe ausnahmslos, eine mehr oder minder fulminante malerische
Bewegung der Kunst parallel. Die zwei großen Fortschritte der griechi-
schen Malerei fallen mit der Revolution der Tyrannenmörder und mit dem
Zerfall Athens während des Peloponnesischen Krieges zusammen. Pompejis
Malerei ist während der Bürgerwirren der Triumvirate am meisten male-
risch. Das Zerbröckeln von Karls des Großen Reich (Karl d. Kahle usw.)
wird von einem besonders prächtigen Aufblühen der Miniaturmalerei be-
gleitet. Die malerischste aller Kathedralen — diejenige von Laon — ent-
steht auf einem Boden, der bereits im Mittelalter von Bauernrevolten, Bür-
gerkriegen aller Art durchwühlt war. Die Parlamentswirren der Stuarts,
die mit der Hinrichtung des Königs eklatierten, fallen in die malerische Zeit

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