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Ludwig, Alfred
Die Genesis der grammatischen Formen des Samskṛt und die zeitliche Reihenfolge in der Selbständigwerdung der indoeuropaeischen Sprachen — Prag, 1891

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https://doi.org/10.11588/diglit.48379#0090
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3. A. Ludwig:

III. Das verhum.
§ 1. Die hauptschwirigkeit, mit welcher die forschung zu kämpfen hatte, und welche
wir allein durch einhaltung der historisch-genetischen methode und durch die auszübung der-
selben auf dem boden der syntaxis, d. i. der philologischen Interpretation alter texte über-
wunden haben, ligt darin, dasz sie so zu sagen sich ihrer eigenen vorauszsetzungen entledigen
und zustande darstellen soll, die nicht mer sind, zunächst aber der positiven anhaltspunkte
dazu ermangelt. Wie sollen wir uns eine flectierende spräche vorstellen in einer periode
ihrer entwicklung, in welcher dieselbe unvollständige oder gar keine paradigmata hatte?
Wie eine spräche, in welcher die regeln und gepflogenheiten noch nicht ihre uns
geläufige festigkeit erlangt hatten, oder villeicht gar noch nicht existierten? Denn geschichte
setzt ein werden, ein werden ein nicht-gewesen-sein des vorhandenen, und ein gewesen-sein
von abweichendem anderartigem vorausz. Aber es schin, als ob ein solcher stoff in der art,
wie man denselben brauchte, um das vorhandene in seiner genesis zu verstehn, nicht exi-
stierte; man fand allerdings Verschiedenheiten abweichungen zwischen älterm und jüngerm,
aber nur graduell, nichts qualitativ, verschiedenes, welches eine wesentlich andere stufe
der Sprachentwicklung, der sprachgewonheiten hätte an die band geben können. Mit einem
worte, man bewegte sich im kreise: die formen muszten ja, darüber war man einig, entstan-
den sein, sie konnten nicht von ewigkeit da gewesen sein, selbst die wilden Völker sind so
weit gekomen einzusehn, dasz die erde in dem zustande, in welchem wir dieselbe sehn, nicht
von jeher bestund, sie haben sagen über die entstehung der weit. Aber die leute muszten
doch sich der spräche bedient haben, ehe sie die formen bildeten. Die formenbildung erfor-
derte gewis lange zeit, jede einzelne form gilt aber nur für ein beschränktes bedeutungs-
gebiet, die verschiedenen bedeutungsgebiete bilden jedoch ein ganzes, ein teil one den an-
dern ist unbrauchbar: man kann nicht z. b. die richtung wohin bezeichnet — die richtung
woher nicht bezeichnet haben, nicht in lauter accusativen oder nominativen gesprochen
haben, nicht blosz in dritten oder etwa in ersten und dritten personen. Warum, wenn disz
möglich war, vermeide man die last der formen? Wie behalf man sich, wärend der zeit, in
welcher das formenmaterial nach den geltenden anschauungen wesentliche lücken aufweisen,
also zur Verwirklichung des systemes, das den geistern (unbewuszt aber gleichwol in wirk-
samer weise) vorschwebte, noch ungenügend sein muszte? Mit einem worte, ausz disem kreise
fand man sich nicht herausz. Man war nicht zur einsicht gelangt, dasz die spräche erst all-
mählich vom unbestimmteren zum bestimmteren fortschreitet; die beobachtungen hatten den
geist zunächst in eine andere richtung gelenkt; die Studien, wie man dieselben in der ersten
periode trib, hatten nur gelert, dasz die älteren perioden der sprachen meist über ein vil
reicheres formenmaterial verfügten als die jüngeren, gerade diser, ser natürliche, eindruck
muszte von der Beantwortung von fragen, welche in vil weiter zurückligende perioden reichten,
als durch erhaltene texte belegt sein konnten, gänzlich ablenken.
Als daher unser buch über den infinitiv im Veda erschin, gleichzeitig mit Berthold
Delbrück’s buch, in welchem derselbe den gesammten casus-bestand des Samskrt den Indo-
europaeischen sprachen von anfang an vindicierte (wir weisen auf disen merkwürdigen um-
 
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