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Die Seele Tizians
leben in die schimmernde Nacktheit. Tizian hat die Natur
begriffen, die den Menschen von der tierischen Schutzhülle
der Felle und Federn befreite, um ihn mit neuen Sinnen zu
bereichern und durch den Anblick der ungetrübten Formen-
pracht zu veredeln. Und fürwahr, die Furcht vor der Nackt-
heit ist ein Gradmesser der Barbarei und Perversität.
Kapitel VI
Tizian und das Leben
Vor Giorgione hatten die Menschen der venezianischen Kunst
keine Haut, sondern eigentlich nur Leder; er zuerst gibt die
weiche Spannkraft wider und damit das lebendige Fleisch, Tizian
fügt noch einen Vorzug hinzu und vollendet damit die Ge-
mäldekunst. Die Haut, die er malt, ist, als liefe wirklich Blut
in ihr um, nicht bloß rötend und spannend, sondern es ist,
als müßte die Hand, sich auf diese schönen Leiber legend,
die Blutwärme spüren können. Jede Seelenregung, die das
Blut schneller oder langsamer umtreibt, überträgt sich ja mit
dem Pulse in das geschmeidige Gewebe und durchbildet dem
Augenblick getreu die Wölbung der Glieder; dazu zittert die
leiseste innere Welle, von den Nerven übermittelt, in jedem
feinen Muskelfaden der Haut, sie kräuselnd — und so tastet
die Hand, tastet das Auge all das geheime wogende Leben der
Seele. Was das grobe Auge allenfalls in den Zügen des Gesichts
erkennt, das sah Tizian eben in jedem Punkte des Leibes.
Wenn die spielenden Eroten im „Venusfeste“ (1518) auch kaum
Die Seele Tizians
leben in die schimmernde Nacktheit. Tizian hat die Natur
begriffen, die den Menschen von der tierischen Schutzhülle
der Felle und Federn befreite, um ihn mit neuen Sinnen zu
bereichern und durch den Anblick der ungetrübten Formen-
pracht zu veredeln. Und fürwahr, die Furcht vor der Nackt-
heit ist ein Gradmesser der Barbarei und Perversität.
Kapitel VI
Tizian und das Leben
Vor Giorgione hatten die Menschen der venezianischen Kunst
keine Haut, sondern eigentlich nur Leder; er zuerst gibt die
weiche Spannkraft wider und damit das lebendige Fleisch, Tizian
fügt noch einen Vorzug hinzu und vollendet damit die Ge-
mäldekunst. Die Haut, die er malt, ist, als liefe wirklich Blut
in ihr um, nicht bloß rötend und spannend, sondern es ist,
als müßte die Hand, sich auf diese schönen Leiber legend,
die Blutwärme spüren können. Jede Seelenregung, die das
Blut schneller oder langsamer umtreibt, überträgt sich ja mit
dem Pulse in das geschmeidige Gewebe und durchbildet dem
Augenblick getreu die Wölbung der Glieder; dazu zittert die
leiseste innere Welle, von den Nerven übermittelt, in jedem
feinen Muskelfaden der Haut, sie kräuselnd — und so tastet
die Hand, tastet das Auge all das geheime wogende Leben der
Seele. Was das grobe Auge allenfalls in den Zügen des Gesichts
erkennt, das sah Tizian eben in jedem Punkte des Leibes.
Wenn die spielenden Eroten im „Venusfeste“ (1518) auch kaum