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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 32.1989

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Nr. 4
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Munding, Heinz: Zwei Aphorismen aus dem Notizbuch eines Altphilologen
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https://doi.org/10.11588/diglit.35870#0109
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Zwei Aphorismen aus dem Notizbuch eines A!tphi!o!ogen
1. Ant/'ke Technik kein „Auch schon", sondern ein „Noch nicht"
Die zunehmenden Zweifel, die uns heute angesichts der ökologischen Auswirkungen
unserer Industriekultur (z.B. des Waldsterbens oder der Vergiftung der Atmosphäre)
befallen, treiben manche Leute zu immer wieder neuen Versuchen, diese Kultur vor
dem Forum der bisherigen Geschichte zu legitimieren oder wenigstens zu verteidigen.
Besonders gern berufen sie sich dabei auf analoge Erscheinungen in der griechisch-rö-
mischen Antike; sie glauben sich und uns dann mit der These, daß der Mensch als ho-
mo faber eben schon immer eine gewisse Verletzung der Natur in Kauf nehmen muß-
te, beruhigen zu können. Doch unterschätzen sie dabei das Ausmaß, in dem die neu-
zeitliche Technik infolge ihrer kumulativen Effekte die condicio humana verändert
hat, so daß der homo, der sich jetzt in dieser condicio befindet, vor völlig neuen Pro-
blemen steht. Das Fatale ist doch, daß wir, durch eine Kette von Eingriffen in den
Haushalt der Natur, eine Verantwortung für die Zukunft der Biosphäre (und damit für
die Zukunft alles irdischen Lebens) auf uns geladen haben. Dergleichen hat es noch
niemals vor dem zwanzigsten Jahrhundert gegeben.
Was helfen da also z.B. Hinweise auf die einst durch die römische Latifundienwirt-
schaft bewirkten Umweltschäden oder darauf, daß bereits im antiken Mittelmeerraum
zum Zwecke des Schiffbaus ganze Wälder abgeholzt und somit (regionale) Verände-
rungen des Klimas herbeigeführt worden sind? Dies waren doch nichts weiter als /dei-
ne Kratzer an der Natur, deren Bereiche der antike Mensch ansonsten, wie gerade
auch das zweite Chorlied in Sophokles' Antigone zeigt, bei seiner bescheidenen Tech-
nik weitgehend unangetastet ließ (vgl. Hans Jonas in der Einleitung zu seinem Buch
„Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation",
Frankfurt a.M. 1984). Wir täten also besser daran, in solchen Fällen statt eines antiken
„Auch schon" das antike „Noch nicht" zu betonen, um uns so die einzigartige Situa-
tion, in die wir uns durch unsere Technik hineinmanövriert haben, in möglichster Klar-
heit zum Bewußtsein zu bringen.
2. Lebensweisheit und „Prinzip Verantwortung"
Jenes Streben nach Lebensweisheit, das einst die Philosophen der Spätantike ihren
Zeitgenossen als Rezept zur Erlangung individuellen Glücks und Seelenfriedens („Ata-
raxie" bzw. „Eudaimonie ") empfohlen hatten, kann heute nicht mehr ohne weiteres
zur obersten Richtschnur des Lebens erhoben werden. Denn inzwischen hat der
Mensch als homo faber die Existenzgrundlagen seiner Gattung gefährdet, und ein mo-
derner Epikur oder Horaz, der es mit seiner Sache ernst meinte, müßte dieser Tatsache
Rechnung tragen: Ohne das Überleben der Gattung kein sinnvolles und erfülltes Le-
ben von Einzelnen! Er müßte sich also zu Abstrichen von dem alten Ideal der Selbstge-
nügsamkeit und zu einer (relativen) Wiederaufwertung von gemeinschaftsbezogener
Ethik durchringen, wie sie, damals noch im Blick auf den antiken Stadtstaat, Platon
oder Cicero in ihren Staatsphilosophien vertreten hatten.

DR. HEINZ MuNDiNG, Beethovenstraße 18, 6721 Schwegenheim

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