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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 37.1994

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Nr. 2
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Aktuelle Themen
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Klowski, Joachim: Die Alten Sprachen und der Neue Schüler
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https://doi.org/10.11588/diglit.33059#0066
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des Kontexts hinauskommt oder sogar beim bloßen Erraten des Gemeinten stehenbleibt.
4 Konsequente Vermittlung des Lateinischen und Griechischen nach Prinzipien der kontrastiven
Grammatik. Angesichts des ohnehin für die „neuen Kinder" extrem schwierigen Abstraktionsgrades
der lateinischen Sprache sollten die muttersprachlichen Kenntnisse dazu genutzt werden, das
andere in der lateinischen Grammatik möglichst deutlich hervortreten zu lassen.
5. Im inhaltlichen Bereich weniger eine Konzentration auf die Lebensrealitäten der Griechen und
Römer, statt dessen mehr geistesgeschichtliche Inhalte, die den Schülern eine Fremderfahrung er-
möglichen, in denen die Antike nicht ausschließlich als defizitäres System im Verhältnis zur Gegen-
wart (Sklaverei, Rolle der Frau, technologischer Standard), sondern als ernstzunehmendes Gegen-
modell (Bedeutung der Frage nach dem Wesen menschlichen Glücks, Möglichkeiten und Grenzen
menschlichen Wissens, selbstverständliches Einbeziehen der Tradition in den verschiedenen Genera
der antiken Literatur, Fortschrittsskepsis, der Mythos als ernstzunehmende Welterklärung) bewußt
gemacht wird.

V.
Die vorgeführten Analysen des Neuen Schülers sind recht differenziert, und das ist gut. Vielleicht
sind sie sogar noch nicht differenziert genug Ebenso mannigfaltig müssen gewiß unsere Hilfestel-
lungen, unsere Anregungen, unser methodisches Verhalten im Unterricht ausfallen, mit denen wir
Lehrer versuchen, dem Neuen Schüler gerecht zu werden. Dennoch scheint es nützlich, vielleicht
sogar notwendig, abschließend vereinfachend die neue Situation zu skizzieren, um die Übersicht zu
behalten oder richtiger wohl: zu gewinnen.
Wir müssen den Neuen Schüler da abholen, wo er sich befindet. Und das heißt vornehmlich, wir
müssen ihn bei seiner Neigung zum Spaß, zur Lust am reinen, oft schnell wechselnden Zeitvertreib
ansprechen. Bei der Lust am reinen Spaß dürfen wir es jedoch nicht bewenden lassen. Wir müssen
vielmehr den neuen Schüler versuchen zur echten Freude hinzuführen, auch und vor allem an eige-
nen Leistungen.
Um diese Metamorphose zu erreichen, ist vor allem eins wesentlich: Wir müssen den Neuen Schü-
ler lieben, möglichst noch mehr als die bisherigen Schüler. Die Neuen Schüler können nämlich
nichts, aber auch gar nichts für die Situation, in der sie aufwachsen:
Sie können nichts dafür, daß sie in zubetonierte Städte hineingeboren wurden, in denen sie nicht
kindgerecht zu spielen vermögen.
Sie können nichts dafür, daß sie sich Medien ausgeliefert finden, die ohne die geringsten pädagogi-
schen Intentionen bei der Gestaltung und Auswahl ihrer Produktionen von Profitsucht bestimmt
werden.
Sie können nichts dafür, daß sie in kaputten Familien aufwachsen, sei es, daß Vater und Mutter sich
schon geschieden haben, sei es, daß sie gerade dabei sind, dies zu tun, sei es, - und dies ist oft das
Problematischste -, daß äußerlich gesehen alles aufs beste bestellt ist, die Eltern jedoch für das Kind
keine Zeit, vielleicht auch nicht mehr die Fähigkeit haben, sich ihm wirklich menschlich zuzuwen-
den, und statt dessen, meist aus schlechtem Gewissen, das Kind mit Geschenken und Vergünsti-
gungen jeder Art überschütten und maßlos verwöhnen.
Sie können nichts dafür, daß sie von Erwachsenen umgeben sind, die, vom Konzept der Selbstver-
wirklichung beherrscht, dieses nur in materialistisch-hedonistisch-narzißtischer Weise zu leben
vermögen.
Falsch ist es indes, deshalb dem Neuen Schüler mit unangemessener Nachsicht begegnen zu wollen-
oder gar zu einer Laissez-faire-Haltung seine Zuflucht zu nehmen. Erforderlich ist es vielmehr, für
den Umgang miteinander - etwa im Klassenraum, in der Schule im allgemeinen oder auch speziell

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