doch jeder Mensch aufgrund seiner Anlage auch unfrei sei. Diese Gedanken hatten zwar schon
Griechen gut dreihundert Jahre vor Seneca geäußert, doch keiner hat sie so zu einer zentralen Aus-
sage seiner Lehre vom Menschen erhoben wie er. Prononciert stellt er etwa in seinem bekannten
Sklavenbrief fest, der eine sei Sklave seiner sinnlichen Begierde, der andere der Habsucht, wieder
ein anderer seines Ehrgeizes, und alle seien Sklaven ihrer Furcht. Am schändlichsten sei jedoch die
freiwillige Sklaverei; in sie begebe sich derjenige, der nicht mit aller Kraft gegen seine Affekte an-
gehe, die zum Bösen neigen und die mit Geist und Vernunft in Widerstreit liegen. Diese Doppelna-
tur und die aus ihr resultierende grundsätzliche Gefährdung machen nach Senecas Überzeugung
die anthropologische Grundbefindlichkeit des Menschen aus.
Gleichwohl sind Körper und Geist nicht zu gleichen Teilen Partner; denn nur dieser hat Anteil am
göttlichen Weltgeist. Und gerade dies ist für den Menschen konstitutiv. Deshalb ist jedem, sei er
nun ein Freigelassener, Sklave oder ein Angehöriger eines fremden Volkes, eine große Würde, eine
magna nob/Z/fas, eigen, ist schließlich der Mensch dem Menschen ein heiliges Wesen: homo res
sacra bom/nZ. Diese normative Wesensbestimmung des Menschen setzte Seneca in eine generelle
Anweisung für den Umgang mit den Menschen um. Wir finden sie in einem seiner großen Briefe an
Lucilius:
„Nun die zweite Frage, wie man die Menschen zu behandeln habe. Was tun wir? Welche Anweisungen
geben wir? Daß wir Menschenblut schonen? Wie wenig ist es, dem nicht zu schaden, dem man nützen soll!
Es verdient selbstverständlich großes Lob, wenn ein Mensch gutherzig zu einem Menschen ist. Werden wir
vorschreiben, daß er dem Schiffbrüchigen die Hand ausstreckt, dem Irrenden den Weg weist, mit dem Hun-
gernden sein Brot teilt?
Unter welcher Beteiligung soll ich all das anführen, was er zu tun und zu lassen hat, da ich ihm doch kurz
und bündig diese allgemeine Formel menschlicher Verpflichtung ans Herz legen kann: All das, was du
siehst, wodurch die Bereiche des Göttlichen und des Menschlichen umschlossen sind, ist nur Eines: Wir sind
Glieder eines großen Körpers. Die Natur hat uns als Blutsverwandte geschaffen, indem sie uns aus densel-
ben Stoffen und zu derselben Bestimmung gezeugt hat. Sie hat uns gegenseitige Liebe eingepflanzt und
uns zu Gemeinschaftswesen gemacht. Sie hat für alle das gleiche Recht gestiftet; nach ihrer Anordnung ist
es erbärmlicher, zu schaden als Schaden zu erleiden: nach ihrem Gebot sollen die Hände für die Bedürftigen
zur Hilfe bereit sein."
Ordnen wir diese Handlungsanweisung unter dem Aspekt der Entwicklung der Hu-
manitätsidee in die geistesgeschichtliche Entwicklung ein, dann belegt sie, daß der Prozeß
der Ausbreitung der Normen, die für alle Menschen gelten sollen, mit einer Entpolitisierung des
Menschenbildes verknüpft ist. Dieser Prozeß, der sich in der Folgezeit noch mehrmals wiederholen
sollte, hat „sich in unserer Geschichte erstmalig in Stoa und Christentum" vollzogen (W. Schulz).
Dies ist wesentlich auf eine weitgehende Übereinstimmung des stoisch-senecanischen mit dem
christlichen Menschenbild zurückzuführen. Hingewiesen sei vor allem darauf, daß, wie es der Völ-
kerapostel Paulus lehrte, in den Menschen der Geist Gottes wohnt, daß sie Gottes Tempel, ande-
rerseits aber auch schwach und anfällig für das Böse, die Sünde, sind und deshalb erlösungsbe-
dürftig. Aus dieser Nähe der einen Lehre zur anderen, ohne die übrigens ein fingierter Briefwechsel
zwischen Paulus und Seneca, den der große Kirchenvater Hieronymus für echt hielt, nicht denkbar
wäre, resultiert auch die unverkennbar große Übereinstimmung in vielen direkten oder auch indi-
rekten Handlungsanweisungen, wie etwa ein Vergleich des angeführten Briefabschnitts mit den
folgenden Worten Jesu (Mt 25,35f. in der Fassung der Einheitsübersetzung) ergibt: „Denn ich war
hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben;
ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen, ich war nackt, und ihr habt mir
Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu
mir gekommen."
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Griechen gut dreihundert Jahre vor Seneca geäußert, doch keiner hat sie so zu einer zentralen Aus-
sage seiner Lehre vom Menschen erhoben wie er. Prononciert stellt er etwa in seinem bekannten
Sklavenbrief fest, der eine sei Sklave seiner sinnlichen Begierde, der andere der Habsucht, wieder
ein anderer seines Ehrgeizes, und alle seien Sklaven ihrer Furcht. Am schändlichsten sei jedoch die
freiwillige Sklaverei; in sie begebe sich derjenige, der nicht mit aller Kraft gegen seine Affekte an-
gehe, die zum Bösen neigen und die mit Geist und Vernunft in Widerstreit liegen. Diese Doppelna-
tur und die aus ihr resultierende grundsätzliche Gefährdung machen nach Senecas Überzeugung
die anthropologische Grundbefindlichkeit des Menschen aus.
Gleichwohl sind Körper und Geist nicht zu gleichen Teilen Partner; denn nur dieser hat Anteil am
göttlichen Weltgeist. Und gerade dies ist für den Menschen konstitutiv. Deshalb ist jedem, sei er
nun ein Freigelassener, Sklave oder ein Angehöriger eines fremden Volkes, eine große Würde, eine
magna nob/Z/fas, eigen, ist schließlich der Mensch dem Menschen ein heiliges Wesen: homo res
sacra bom/nZ. Diese normative Wesensbestimmung des Menschen setzte Seneca in eine generelle
Anweisung für den Umgang mit den Menschen um. Wir finden sie in einem seiner großen Briefe an
Lucilius:
„Nun die zweite Frage, wie man die Menschen zu behandeln habe. Was tun wir? Welche Anweisungen
geben wir? Daß wir Menschenblut schonen? Wie wenig ist es, dem nicht zu schaden, dem man nützen soll!
Es verdient selbstverständlich großes Lob, wenn ein Mensch gutherzig zu einem Menschen ist. Werden wir
vorschreiben, daß er dem Schiffbrüchigen die Hand ausstreckt, dem Irrenden den Weg weist, mit dem Hun-
gernden sein Brot teilt?
Unter welcher Beteiligung soll ich all das anführen, was er zu tun und zu lassen hat, da ich ihm doch kurz
und bündig diese allgemeine Formel menschlicher Verpflichtung ans Herz legen kann: All das, was du
siehst, wodurch die Bereiche des Göttlichen und des Menschlichen umschlossen sind, ist nur Eines: Wir sind
Glieder eines großen Körpers. Die Natur hat uns als Blutsverwandte geschaffen, indem sie uns aus densel-
ben Stoffen und zu derselben Bestimmung gezeugt hat. Sie hat uns gegenseitige Liebe eingepflanzt und
uns zu Gemeinschaftswesen gemacht. Sie hat für alle das gleiche Recht gestiftet; nach ihrer Anordnung ist
es erbärmlicher, zu schaden als Schaden zu erleiden: nach ihrem Gebot sollen die Hände für die Bedürftigen
zur Hilfe bereit sein."
Ordnen wir diese Handlungsanweisung unter dem Aspekt der Entwicklung der Hu-
manitätsidee in die geistesgeschichtliche Entwicklung ein, dann belegt sie, daß der Prozeß
der Ausbreitung der Normen, die für alle Menschen gelten sollen, mit einer Entpolitisierung des
Menschenbildes verknüpft ist. Dieser Prozeß, der sich in der Folgezeit noch mehrmals wiederholen
sollte, hat „sich in unserer Geschichte erstmalig in Stoa und Christentum" vollzogen (W. Schulz).
Dies ist wesentlich auf eine weitgehende Übereinstimmung des stoisch-senecanischen mit dem
christlichen Menschenbild zurückzuführen. Hingewiesen sei vor allem darauf, daß, wie es der Völ-
kerapostel Paulus lehrte, in den Menschen der Geist Gottes wohnt, daß sie Gottes Tempel, ande-
rerseits aber auch schwach und anfällig für das Böse, die Sünde, sind und deshalb erlösungsbe-
dürftig. Aus dieser Nähe der einen Lehre zur anderen, ohne die übrigens ein fingierter Briefwechsel
zwischen Paulus und Seneca, den der große Kirchenvater Hieronymus für echt hielt, nicht denkbar
wäre, resultiert auch die unverkennbar große Übereinstimmung in vielen direkten oder auch indi-
rekten Handlungsanweisungen, wie etwa ein Vergleich des angeführten Briefabschnitts mit den
folgenden Worten Jesu (Mt 25,35f. in der Fassung der Einheitsübersetzung) ergibt: „Denn ich war
hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben;
ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen, ich war nackt, und ihr habt mir
Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu
mir gekommen."
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