Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
86 Meggendorfer-Blätter, München

Warum Herr Krüger zählte

Es war genau acht !lhr sieben
Minuten, als ich Kerrn Krüger traf.

Ich stand nämlich gerade an der
Normaluhr, nach der ich meine
Taschenuhr stellte, und §>err Krüger
kam von der andern Seite. Zuerst
sah er mich nicht, denn er blickte
auch nach der Normaluhr — aller-
dings ohne seine Taschenuhr mit
jener maßgebenden Instanz zu ver-
gleichen.

„Guten Abend, Lerr Krüger,"
sagte ich. Wir kennen uns recht gut
und machen abends oft unsern Äeim-
weg zusammen.

§)err Krüger erwiderte meinen
Gruß in ungewohnter Weise. Er
nickte mir nur zu, sagte aber nicht
guten Abend, sondern: „Eins, zwei,
drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht."

!lnd dann bewegten sich seine Lippen
noch weiter, und ich merkte, wie er
vor sich hin flüsterte: „Neun, zehn,
elf, zwöls, dreizehn —"

„Gehn Sie nach Lause, Äerr
Krüger?" fragte ich.

Die Antwort kam nicht gleich.

Erst nach einer Weile ging sein
Flüstern, das keinen Augenblick aus-
gesetzt hatte, in Sprechlaute über.

„Dreiundzwanzig — vierundzwanzig

— fünfundzwanzig — freilich —
siebenundzwanzig — achtundzwanzig

— gehe ich — einunddreißig — zwei-
unddreißig — nach Lause — fünf-
unddreißig — sechsunddreißig." Das
sprach Äerr Krüger, und dann
slüsterte er wieder vor sich hin:

„Siebenunddreißig — achtunddreißig

— neununddreißig." !lnd immer wei-
ter zählte er, immer weiter, während
wir die Straße entlang gingen.

„Wir sind ja schon ost zusammen
gegangen, Lerr Krüger," erklärte ich,

„aber es kommt mir vor, als ob ich Sie
heute störe. Ich werde also ein wenig
zurückbleiben, wenn Sie beschäftigt
sind, oder ich kann auch, da ich nun
einmal den gleichen Weg habe, voran-
gehn oder schließlich auch auf der andern Seite der Straße."

Lerr Krüger packte meinen Arm. „Neunundsiebzig

— achtzig — es wird — dreiundachtzig — vierundachtzig —
mir sehr angenehm sein — neunundachtzig — neunzig —
wenn wir — dreiundneunzig — zusammen gehn — sechs-
undneunzig — siebenundneunzig — achtundneunzig." Dann
ging sein Sprechen wieder in Flüstern über, und immer
weiter zählte er, immer weiter.

Also schön, ich verließ Lerrn Krüger nicht, und wir
gingen zusammen dahin. Äerr Krüger ist sonst ein ge-
sprächiger Mann, der immer etwas Neues zu erzählen
weiß und unsern ohnehin nicht weiten Weg oft angenehm ver-
kürzt hat. Aber diesmal sah er, eine Furche auf der Stirn,
nur starr vor sich hin, und einschläfernd peinigte sein Flüstern

mein Ohr, das unermüdliche Zählen,-„hundertsechzig,

hunderteinundsechzig — hundertzweiundsechzig-." Zählte

er vielleicht seine Schritte? Aber nein, — als wir uns vor-
hin getroffen, hatten wir doch beide still gestanden — unter der
Normaluhr — und da schon hatte er angefangen zu zählen.

Eigentlich war das eine Nücksichtslosigkeit von ihm.
Anter solchen Amständen hätte er doch nicht erklären dürfen.

Die Sehenswürdigkeit

— „Des möcht' i wiff'n, für was Sie jetzt die
Taub'n füttern, wo eh koaneFremden da san?"

daß meine Begleitung ihm ange-
nehm sein würde, — wenn ich so
als ein Anhängsel neben ihm daher
trotten sollte. Mindestens eine Er-
klärung hätte er mir geben müssen,
was, zum Donnerwetter, er denn
eigentlich bezweckte. Gar keine Lust
hatte ich, mir das gefallen zu lassen.
„Äören Sie, Äerr Krüger," sagte ich,
„so geht das nicht weiter. Sie machen
mich nervös. Ich laufe jetzt fort.
Morgen früh, wenn wir uns wieder
sehn, werden Sie ja wohl aufgehört
haben, zu zählen. Sie werden viel-
leicht heute noch darüber einschlafen!
Wenigstens soll das ein ganz gutes
Einschläferungsmittel sein."

Aber er packte mich wieder. „Zwei-
hundertdreiundfünfzig — warten
Sie doch — Zweihundertsiebenund-
sünfzig — wir sind ja gleich zu Äause
— zweihundertdreiundsechzig —Don-
nerwetter, zweiundsechzig — nein,
verflucht, das stimmt nicht! Sie brin-
gen mir die Geschichte in Unordnung!
Wir trinken nachher noch ein Glas
Bier zusammen, bis dahin seien Sie
doch ruhig! Also weiter: etwa zwei-
hundertzweiundachtzig — zweihun-

dertdreiundachtzig-." !lnd Äerr

Krüger flüsterte wieder, und immer
weiter zählte er, immer weiter.

Meinen Arm ließ er jetzt nicht
mehr los. Ich hatte aber auch gar
nicht den Wunsch mehr, mich von
ihm zu entfernen; jetzt war ich doch zu
neugierig geworden, Äerrn Krügers
seltsames Berhalten erklärt zu be
kommen. Er halte gezählt, und wenn
er ein paar Worte dazwischen ge-
sprochen hatte, dann hatte er jedes
Wort für eine Zahl gerechnet, und
zuletzt hatte das nicht ganz gestimmt,
da war er ordentlich ärgerlich ge-
worden. Nachher hatte er dann
gleich zwanzig auf einmal aufge-
schlagen. Das war sehr merkwürdig.

„Achthundertzwölf," sagte Lerr
Krüger, als wir vor seiner Äaus-
tür standen. Aber er zählte dann
noch weiter und deutete nur mit der Äand auf das nahe
Lokal, in dem wir noch das in Ausstcht genommene Glas
Bier trinken wollten. Dann lief er die Treppe hinaus.
„Achthundertsechzehn — achthundertsiebzehn — achthundert-
achtzehn."-

Zwei Minuten später war er wieder unten, vergnügt
und wie von einer schweren Last befreit. In der Land hielt
er seine Uhr. „Sehen Sie, — die hatte ich heute zu Lause
liegen lassen. Ich wollte sie nach der Normaluhr stellen,
weil ich morgen früh verreise und immer erst in der letzten
Minute auf den Bahnhof komme. Da habe ich nun von
der Normaluhr an den ganzen Weg die Sekunden gezählt
und dann durch sechzig dividiert — jetzt haben wir genau
8 !lhr 21 Minuten."

Ich sah auf meiner!lhr nach. „Stimmt, Äerr Krüger!
Das hätte ich Ihnen auch sagen können, und Sie hätten
sich die blödsinnige Arbeit erspart."

Da schlug er sich vor den Kopf. „Donnerwetter
darauf hätten Sie mich eigentlich aufmerksam machen
können!" meinte er brummend und nicht ganz logisch.

Nobinson

Copyright by Z. F. Schreiber 1915
 
Annotationen