122 Meggendorfer-Blätter, München
Das Zahnheilmittel
und mit einem dickverbundenen Kopfe gar kläglich zu ihr
aufschaute, vergaß sie ihren Groll.
„Ach, du meine Giete," rief sie teilnehmend aus, „was
is denn mit Sie, Mammitzschen?"
„Zahnschmerzen hab' ich, Madame Lendscheln, firchter-
liche Zahnschmerzen," wimmerte diese.
„Nee, so was," erstaunte die Frau Bürgerschuldiener.
„das is Sie ja abscheilich. Wo Sie doch bloß noch än
eenzigen Zahn haben."
llnter Wimmern und teilnehmenden Seufzern betraten
die beidcn Frauen die Stube, in der es stark nach Kamillen-
tee und Kartoffelbrei roch. und ließen sich nieder.
„Wie is Sie das nur so bletzlich gekommen, gute Mam-
mitzschen?" erkundigte sich die Frau Lendschel.
„Ich weeß es selber nich," gab die Mammitzschen kopf-
schüttelnd zur Antwort. „Vielleicht bin 'ch in Zug gekommen.
Jch hab' Sie nämlich geftern Wäsche uffgehängt und uff dem
alten Trockenplatz ziehts egal so."
„Da haben Sie's, Mammitzschen," entgegnete die Lend-
scheln, „der verflixte Zug. Der Zug is der Todfeind der
menschlichen Konschtitution."
„Ja, ja, Sie wer'n recht haben, Madame Lendscheln,
da dervon is," stimmte die Mammitzschen bei.
„Laben Sie denn nischt d'rgegen getan?" frug mit
einiger Strenge die Bürgerschuldienerin.
„Ach herrje," erwiderte die Palientin, „vielerlee! Die
ganze Nacht hab' 'ch warme Bähungen gemacht: änne Mus-
katennuß hab' 'ch m'r zwischen die Zehen geklemmt; Nelkeneel
hab' 'ch uff den Zahn getrepfelt, Zwiebeln hab' 'ch m'r in die
Ohren gcschteckt und a' Kreiterpäckchen hab' 'ch m'r uff die
Brust gelegt, aber alles hat Sie nischt nich genutzt."
„Lauter bewährte Lausmittel sonst," wandte die Frau
Lendschel nachdenklich ein, „da is Sie freilich guter Rat teier."
Nun folgte eine kieine Pause, während der man beob-
achten konnte, wie es in ganz eigentümlicher Weise in der
Frau Bürgerschuldiener zu arbeiten begann. Ein Psycholog
hätte ganz deuilich bemerken können, wie sich eine innere,
ihr selbst unbewußte Wandlung vollzog. Es war etwa, als
wenn Waffer zu sieden anfängt oder Lesenteig anfängt
aufzugchen. Plötzlich aber sprang die alte Dame auf, aus
ihren Augen quoll ein förmlich überirdisches Leuchten, mit
ekstatischen Bewegungen schritt sie auf die Mammitzschen los
und mit Losiannastimme rief sie: „Mammitzschen, lassen Sie
doch ämal sehen!"
Die Leidende lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und
machte den Mund weit aus, die Lendscheln aber tat einen
Seherblick in die gähnende Löhle hinein. Eine Zeitlang
stand sie in somnambulem Schauen versunken, dann streckte
sie mit zurückgebogenem Oberkörper den rechten Arm steif
von sich, die Finger der Land gespreizt, als wolle sie eine
Oktave greifen, mit der linken aber tat sie einen inspirierten
Griff nach dem auf dem Tische stehenden Salzfaß und schüt-
teke deffen vollen Inhalt der Gendarmenswiiwe in den
Rachen, daß der kranke Zahn aussah wie ein verschneiter
Brunnen in einem dunklcn Linterhofe. Die alte Frau stieß
einen unterdrückten, gurgelnden Schrei aus, dem ein minuten-
langer, entsetzlicher Lustenanfall folgte; dann fiel fie in ihren
Stuhl zurück, schloß die Augen und blieb so requngslos sitzen,
während aus ihren Mundwinkeln salziges Waffer hernieder-
rann. —
Frau Ledwig Lendjchel, Bürgerschuldienerswitwe, er-
zählt den merkwürdigen Vorfall in ihrem später erschienenen
Büchlein: „Meine Berufung" etwas ausführlicher. Etwa
wie folgt.
„Als ich so die Mammitzschen mit dem geösfneten Munde
vor mir sitzen sah, überkam es mich plötzlich wie eine Offen-
barung. Ich hatte das Gefühl, als könne ich der armen, alten
Frau helfen und zwar durch eine mir innewohnende Macht.
Schon oft hat man ja gelesen, daß besonders veranlagte
Menschen unerwartet in den Besitz unerklärlicher Kräfte
gelangt sind, welche fie befähigten, an Wunder grenzende
Dinge zu vollbringen. Ich wußte allerdings nicht, wie sich
diese Kraft in mir äußern würde, ob durch die Lände als
Vermittler eines magnetiscken Stromes, oder durch die
Augen, oder durch ein äußeres Mittel, zu dem mich viel-
leicht transcendenkale Eingebung lenken würde, als meine
Die zwei Dackeln und das neue Turner-Trikot
Das Zahnheilmittel
und mit einem dickverbundenen Kopfe gar kläglich zu ihr
aufschaute, vergaß sie ihren Groll.
„Ach, du meine Giete," rief sie teilnehmend aus, „was
is denn mit Sie, Mammitzschen?"
„Zahnschmerzen hab' ich, Madame Lendscheln, firchter-
liche Zahnschmerzen," wimmerte diese.
„Nee, so was," erstaunte die Frau Bürgerschuldiener.
„das is Sie ja abscheilich. Wo Sie doch bloß noch än
eenzigen Zahn haben."
llnter Wimmern und teilnehmenden Seufzern betraten
die beidcn Frauen die Stube, in der es stark nach Kamillen-
tee und Kartoffelbrei roch. und ließen sich nieder.
„Wie is Sie das nur so bletzlich gekommen, gute Mam-
mitzschen?" erkundigte sich die Frau Lendschel.
„Ich weeß es selber nich," gab die Mammitzschen kopf-
schüttelnd zur Antwort. „Vielleicht bin 'ch in Zug gekommen.
Jch hab' Sie nämlich geftern Wäsche uffgehängt und uff dem
alten Trockenplatz ziehts egal so."
„Da haben Sie's, Mammitzschen," entgegnete die Lend-
scheln, „der verflixte Zug. Der Zug is der Todfeind der
menschlichen Konschtitution."
„Ja, ja, Sie wer'n recht haben, Madame Lendscheln,
da dervon is," stimmte die Mammitzschen bei.
„Laben Sie denn nischt d'rgegen getan?" frug mit
einiger Strenge die Bürgerschuldienerin.
„Ach herrje," erwiderte die Palientin, „vielerlee! Die
ganze Nacht hab' 'ch warme Bähungen gemacht: änne Mus-
katennuß hab' 'ch m'r zwischen die Zehen geklemmt; Nelkeneel
hab' 'ch uff den Zahn getrepfelt, Zwiebeln hab' 'ch m'r in die
Ohren gcschteckt und a' Kreiterpäckchen hab' 'ch m'r uff die
Brust gelegt, aber alles hat Sie nischt nich genutzt."
„Lauter bewährte Lausmittel sonst," wandte die Frau
Lendschel nachdenklich ein, „da is Sie freilich guter Rat teier."
Nun folgte eine kieine Pause, während der man beob-
achten konnte, wie es in ganz eigentümlicher Weise in der
Frau Bürgerschuldiener zu arbeiten begann. Ein Psycholog
hätte ganz deuilich bemerken können, wie sich eine innere,
ihr selbst unbewußte Wandlung vollzog. Es war etwa, als
wenn Waffer zu sieden anfängt oder Lesenteig anfängt
aufzugchen. Plötzlich aber sprang die alte Dame auf, aus
ihren Augen quoll ein förmlich überirdisches Leuchten, mit
ekstatischen Bewegungen schritt sie auf die Mammitzschen los
und mit Losiannastimme rief sie: „Mammitzschen, lassen Sie
doch ämal sehen!"
Die Leidende lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und
machte den Mund weit aus, die Lendscheln aber tat einen
Seherblick in die gähnende Löhle hinein. Eine Zeitlang
stand sie in somnambulem Schauen versunken, dann streckte
sie mit zurückgebogenem Oberkörper den rechten Arm steif
von sich, die Finger der Land gespreizt, als wolle sie eine
Oktave greifen, mit der linken aber tat sie einen inspirierten
Griff nach dem auf dem Tische stehenden Salzfaß und schüt-
teke deffen vollen Inhalt der Gendarmenswiiwe in den
Rachen, daß der kranke Zahn aussah wie ein verschneiter
Brunnen in einem dunklcn Linterhofe. Die alte Frau stieß
einen unterdrückten, gurgelnden Schrei aus, dem ein minuten-
langer, entsetzlicher Lustenanfall folgte; dann fiel fie in ihren
Stuhl zurück, schloß die Augen und blieb so requngslos sitzen,
während aus ihren Mundwinkeln salziges Waffer hernieder-
rann. —
Frau Ledwig Lendjchel, Bürgerschuldienerswitwe, er-
zählt den merkwürdigen Vorfall in ihrem später erschienenen
Büchlein: „Meine Berufung" etwas ausführlicher. Etwa
wie folgt.
„Als ich so die Mammitzschen mit dem geösfneten Munde
vor mir sitzen sah, überkam es mich plötzlich wie eine Offen-
barung. Ich hatte das Gefühl, als könne ich der armen, alten
Frau helfen und zwar durch eine mir innewohnende Macht.
Schon oft hat man ja gelesen, daß besonders veranlagte
Menschen unerwartet in den Besitz unerklärlicher Kräfte
gelangt sind, welche fie befähigten, an Wunder grenzende
Dinge zu vollbringen. Ich wußte allerdings nicht, wie sich
diese Kraft in mir äußern würde, ob durch die Lände als
Vermittler eines magnetiscken Stromes, oder durch die
Augen, oder durch ein äußeres Mittel, zu dem mich viel-
leicht transcendenkale Eingebung lenken würde, als meine
Die zwei Dackeln und das neue Turner-Trikot