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56 Meggendorfer-Blätter, München

Im Freibad

Dei Vagel Grip

Das sind nun über dreißig Iahre her, da schenkte der
Gastwirt Knak, der damals noch den Poggenkrug in Alt-
bauhof hatte, seinem ältesten Iungen, dem Krischan, zu
Weihnachten eine Blechkanone. Eine regelrechte „Scheit-
kanon" mit richtiggehenden Nädern und einer angespannten

Feder und einem langen Nohr, aus dem man mit Erbsen
verheerende Breschen in die Neihen feindlicher Zinnsoldaten
schlagen konnte.

Krischäning aber, der über seiner Kanon die weih-
nachtlichen Zuckerkringel und Pepernät vergaß, suchte sich
bald andere Ziele aus als die wackelige Soldateska: der
„Vagel Grip — Kalender" fiel seiner Knabenphantasie zum
Opfer. Die Zierde des Titelblattes, den Vogel Greif,
schnitt er fein säuberlich mit der Schere aus und benutzte
ihn zu seinen Schießübungen. Die Gaststube des Poggen-
krugs diente ihm als Exerzierplatz. Vorn auf den langen
Tisch, wo die Fuhrknechte saßen, stellte er seinen Vogel
Greif, und hinten am Familientisch baute er sich mit seiner
Kanone aus. Die Mutter schüttelte zwar bedenklich den
Kopf: „Wenn Vadding dat süht. — Krischan schoß

unbeirrt seine Erbsen ab, und wenn der stolze Vogel Greif
vom Tisch herunterflog, rief er zufrieden: „Dor liggt hei,
dei Vagel Grip!" Der alte Knak verbot ihm die Spielerei
in der Gaststube — „dei Bengel schütt' mit sin Arwten
noch een Gast in de Näs'!" — Krischan aber retirierte mit
seiner Kanone in die Schlafstube, ließ die Tür offen und
schoß von der Bettkante aus mit der ersten Erbse sein Ziel
vom Knechtetisch herunter. „Dor liggt hei, dei Vagel
Grip!" — triumphierte er. — „Infamigte Bengel!" — rief
der alte Knak und gab ihm einen Katzenkopf. Dann, die
Flugbahn des Erbsengeschoffes mit den Augen mefsend,
nickte er befriedigt und langte aus der bunt bestickten Börse
einen Groschen. „Dunnernarrn, Krischäning! — Kumm',
min Iünging, hol' di von Bäcker Kränger 'n Stück Platen-
kauken!" —

.-i- -t-

Fünfzehn Iahre später dient Krischan Knak bei der
Schweriner Feldartillerie.

Rach dreißig Iahren finden wir ihn als Anteroffizier
und Geschützsührer bei einer Fliegerabwehrbatterie in Frank-
reich. Da gibt es Arbeit vom Morgen bis in den sinkenden
Abend. Da heißt es, jeden Moment gegen feindliche Flieger
gewappnet zu sein, die, oft zu zweien und dreien, über den
deutschen Stellungen ihre unberechenbaren Kreise ziehen.
Mit welcher Wut ihnen die Schrapnells der Fliegerab-
wehrbatterie entgegen- oder hinterdreinheulen, wenn die
Naseweisen mit unglaublicher Frechheit tiefer und tiefer
klettern! Und mit welchem verbiffenen Zorn die Kanonen
unten verstummen müffen, wenn die Spürhunde direkt
über ihnen sind und beim nächsten Schuß die Stellung
entdecken können, entdecken müffen! —

Da hockt denn auch zähneknirschend Krischan Knak nach
dem Kommando „Feuerpause!" und sieht, wie über ihm
der unverschämte Franzmann, den er seit Wochen auf dem
Kieker hat, stoppt und sich die Gegend besieht. Die Trikolore
glänzt in der Sonne, und tief steht der Flieger — tief,
daß er einem bald die Mütze vom Schädel reißen kann.

Drohend reckt Krischan die Faust gen Limmel. Dann
sitzt er auf dem Lafettenschwanz. — „Feuerpause ist kom-
mandiertü!" — rufen die Kameraden — „wir sind verratzt,
wenn der Kerl uns schießen siehtü!" —

Kirschan richtet und schießt, und derweil die andern
noch wie gelähmt dastehen, weist er auf den brennenden
Motor, der brausend abstürzt, und ruft triumphierend:

„Dor liggt hei, dei Vagel Grip!"

Krischan bekam keinen Katzenkopf, aber drei Tage
Mittelarrest.

Krischan bekam keinen Platenkuchen, aber das Eiserne
Kreuz Erster. — Kanonier Engel
 
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