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Die Llhr, die immer vorging Von Peter Robinson
Ieden Morgen, Sonn- und Feiertage und Krankheits-
fälle ausgenommen — muß ich in die Stadt fahren. Der
Vorortszug, den ich benutze oder benutzen mvchte — je nach-
dem, das wird man gleich sehn — geht von meinem Wohn-
ort als Anfangsstation ab, und deshalb fährt er pünktlich
ab. Nicht immer ganz so pünktlich bin dagegen ich, und so
fährt der Zug auch manchmal ohlie mich ab. Zch komme
gewöhnlich grade nur um eine Minute zu spät. Solche
kleinen Differenzen zwischen uns und dem Glück ärgern uns
am meisten. Wenn man sich ärgert, daß einem etwas schief
geht, muß immer ein anderer die Schuld haben. Also suchte
ich nach einem Sündenbock und fand ihn leicht: meine Taschen-
uhr war es. Gewiß meine !lhr war ein braves Ding, ein
alt ererbtes Stück. Aber wie das eben geht, wenn man
alt wird, — man kommt dann nicht mehr so recht mit der
Zeit mit. Eine Ahr, die nicht recht mit der Zeit mitkommt,
geht nach, und das tat die meine, jeden Tag etwa drei,
manchmal auch vier Minuten. Das hätte ja nun eigentlich
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nichts gemacht; ich hätte ja
die vier Minuten in die Zeit,
die ich bis zum Bahnhof
brauchte, einberechnen kön-
nen, und dann wäre alles in
schönster Ordnung gewesen.
Wenn aber einer durchaus
die Schuld haben soll, dann
kriegt er fie auch, falls er stch
nicht gehörig zu verteidigen
vermag, und das konnte
doch meine Taschenuhr nicht.
Offe» gestanden (da ich hier
nicht meine Memoiren
schreibe, kann ich ja die
Wahrheit sagen) offen ge-
standen also: ich hatte schon
lange den Wunsch gehabt,
mir eine hübsche neue Ahr
anzuschaffen, und nun hatte
ich den Vorwand, den man
meistens braucht,wenn man
stch einen eigentlich über-
flüssigen Wunsch erfüllen
will. Wo ich die Ahr kaufen
wollte, das wußt ich schon.
Zu Sebald Bemperlein ging
ich, einem sreundlichen alten
Ahrmacher, der mir öfters
die jetzt zu pensionierende
Ahr repariert hatte. Jn sei-
nem Schaufenster hatte er
ein Chronometer liegen mit
einem Zettel darunter, aus
dem „Normalzeit" stand, -
gewissermaßen als freund-
liche Einladung an jeden
Vorllbergehenden,sich über
die genaue Zeit belehren
zu laffen. Am dies Chrono-
meter herum waren wie ein
Kranz etwa zwei Dutzend
Taschenuhren aufgebaut,
die alle ganz exakt gleiche
Zeit zeigten. Sebald Bem-
perlein war also sicher der
rechte Mann, bei dem man eine Ahr kaufen konnte.

„Zch möchte eine Taschenuhr, Lerr Bemperlein," sagte
ich, „eine ordentliche, brave, gewissenhafte Ahr, auf die ich
mich verlassen kann wie auf einen guten Freund."

„O, ich habe noch beffere!" erklärte Bemperlein. „Ein
guter Freund, — das' ist nicht der richtige Vergleich." Lierzu
lächelte er ein bißchen schmerzlich: vielleicht hatte er schlimme
Erfahrungen hinter sich. „Nein, ich kann Ihnen eine Ahr
geben, aus die Sie sich verlassen können wie auf einen Feind,
einen hartherzigen Gläubiger, der sie immer und immer mahnt
und keine Minute von der Zeit nachläßt. So muß eine Ahr
sein." — Damit hatte Bemperlein recht. Die Ahr ist ja ei-
gentlich der Feind des Menschen, weil sie uns gewöhnlich
in unsere schönsten Skunden mit widerwärtiger Mahnung
hineinfährt, und die Engländer, die viel praktische Weisheit
haben, sagen ja statt „Wieviel ist die Ahr?" manchmal auch
„Wie steht der Feind?"

Ich suchte mir also einen solchen Feind aus, den mir
Bemperlein besonders empfahl. Er zog ihn auf und stellte

— „Taverl, haft mi gern?"

— „Stad bist, jetza werd g'heirat und net dischkriert."
 
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