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Eine Zahnextraktlon

Kniebel lachte ein bifichen in sich hinein. Ia, das waren
doch nette Erinnerungen. Aber nachher, da hatte ihn das
schändliche Gewitter überrascht. Er hatte gehofft, noch recht-
zeitig in Sicherheit zu kommen, und getreten wie verrückt.
Limmel, was hatte er geschwitzt! Llnd dann war er doch
noch mitten auf der kahlen Landstraße, als ein förmlicher
Wolkenbruch niederging, und in ein paar Minuten war er
naß bis auf die Laut, ach, bis auf die Knochen gewesen.
And dann hatte er in der Nacht Zahnweh bekommen, Don-
ner, waren das Zahnschmerzen gewesen! Der hinterste
Backenzahn an der linken Seite — Wurzelhautentzündung.
So etwas ist eine der Katastrophen, die in keinem Men-
schenleben ausbleiben. And die dicke Backe, die er dann
bekommen hatte I Als wenn er eine ganze Kartoffel vom
Mittagessen dort aufbewahrt hätte. Der Zahnarzt hatte
ihm die Geschwulst aufgeschnitten, und später hatte er dann
den Zahn kunstvoll behandelt und ihm noch eine lange Le-
bensdauer versprochen, — dem Zahn nämlich, nicht Kniebel,
denn er war nur für die Zähne der Menschen und nicht
für ihre sonstige Konstitution zuständig. Er hatte sich auch
nicht geirrt: Kniebel besaß den Zahn noch immer, — jetzt
allerdings nur noch als eine Ruine, an deren Wiederauf-
bau nicht mehr zu denken war. Er hatte noch mehr solcher
Ruinen im Munde; sie waren so nach und nach in den letz-
ten Iahren entstanden, seitdem er aus den sogenannten pe-
kuniären Gründen es sich hatte versagen müffen, einen Zahn-
arzt zu bemühen.

Kniebel war so aus seinen Erinnerungen ganz unab-
sicktlich wieder in die Ietztzeit zurückgekehrt. Aber merk-
würdig: wie groß doch die Macht der Erinnerung ist! Da
hatte er nun an jenen schändlichen Zahnschmerz gedacht,
hatte sich ihn ganz lebhaft vorgestellt, und nun war ihm
doch — — Kniebel fuhr jäh im Bett auf. Ia, war das
noch Erinnerung? Nein, das war neue Wirklichkeit, das
war sogar eine Tatsache: der Zahn, der hinierste Backen-
zahn an der linken Seite machte sich bemerkbar. Kniebel
biß zur Probe die Kiefer ein bißchen zusammen, — au, der
Zahn tat weh; er war entjchieden länger geworden, aus
dem ihm als Quartier angewiesenen Zahnfach etwas in die
Äöhe gedrückt. And der Schmerz verging nicht, er blieb,
und in Kniebel stieg die fürchterliche Vermutung auf, daß
er sich noch verstarken und bis zu völliger Anerträglichkeit

— „Die Stellung bei Geheimrats verlaffe ich wieder. Sie haben
mir Familienanschluß versprochen und haben gar kein Nadio."

wacksen würde. Denn damals, als junger Kerl, hatte er
das noch aushalten können, aber heute war er zermürbt von
so vielen andern Plagen.

Er machte Licht, krabbelte aus dem Bett und holte sich
sein Buch: Der kranke Mensch und seine Äeilung auf na-
turgemäßem Wege. Natürlich schlug er es von hinten auf,
beim 2. Aha — Zahnschmerz. Es ist nicht immer leicht, die
Grundursache des Zahnschmerzes zu finden, be-
sonders festzustellen, ob die Zahnpulpa oder die
Zahnfächerbeinhaut entzündet ist. Man klopfe
mit irgend einem metallenen Instrumente auf
den betreffenden Zahn. Ist die Fächerbeinhaut
entzündet, so steigert die geringe Erschütterung

den Schmerz-stimmt, au weh I Kniebel

hatte bereits mit einem metallenen Instrument,
nämlich seinem Wohnungsschlüffel auf den Zahn
geklopft. Die Diagnose war fertig: Wurzel-
hautentzündung. Weiter! sehen wir mal, was
das Buch über die Behandlung sagt. Anunter-
brochene Anwendung von Mundbädern, die
man anfänglich ganz lau nimmt, deren Tem-
peratur man aber allmählich so sehr steigert,
wie man sie irgend ertragen kann. In andern
Fällen dagegen erweisen sich zu Beginn ganz
kalte Mundbäder als sehr wirksam. —

Bums! Kniebel schmiß das Buch an die
Wand. Daraus sollte nun einer klug werden;
das war ja wie in der Politik: so oder auch
umgekehrt! Er entschloß fich zu kalten Mund-

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