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Meier-Graefe, Julius [Hrsg.]; Renoir, Auguste [Ill.]
Auguste Renoir — München, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.27183#0120
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Gesichter sind bei aller Wahrscheinlichkeit des Bildnishaften zu
Typen geworden*). Die Vereinfachung bringt sie der in ganz
gleichen Farben gemalten Puppe nahe, die dem ältesten Mädchen
auf dem Schoß sitzt. Diese Puppe ist gewissermaßen der Anfang
einer stufenweisen Steigerung des physiognomischen Ausdrucks.
Das Wagnis, Menschen nach dem Schema eines Spielzeugs zu
bilden, war außerordentlich im Jahre 1884 und mag noch heute,
trotz der hundert Stilisierungen unserer Zeit, auf überzeugungstreue
Naturalisten wie ein Hohn auf die ahnenreiche Menschheit wirken.
Dem Kunstfreunde ist die damit erlangte Festigkeit des Figür-
lichen unentbehrlich. Dadurch erhält die logische, aber in ihrer
kühnen Konsequenz über alle Tradition weit hinausgehende Har-
monie der Farben Maß und Ziel. Man weiß nicht, wie es zugeht,
daß sich die in diesem Bilde mit solcher Entschiedenheit entwickelten
Elemente der Farbe und der Linie das Gleichgewicht halten. Viel-
leicht wäre das gleiche Resultat bei einer Darstellung des Nackten
nicht zu erreichen gewesen. Das Problem in den „Baigneuses“
war einfacher. Die Kostüme und die Einzelheiten des Interieurs
sind unübersehbare Hilfen, aber waren auch ebensoviel Klippen.
Es gehörte ein Renoir dazu, um mit allen Gegebenheiten zu dem
äußersten Grade von Realisierung zu gelangen und ein Werk zu
schaffen, das wie die „Baigneuses“ aller Vorteile strenger Stili-
sierung teilhaftig ist, ohne daß wir ein übernommenes Stilelement
nachzuweisen vermöchten. Damit mag der merkwürdige Gefühls-
inhalt des Werkes Zusammenhängen, der Eindruck eines Bildnisses,
das mit seiner ganzen Sachlichkeit in die Gefilde des Märchens
übergeht.

*) Bei der Ausbildung- des Typischen kam Renoir die Vertrautheit mit den
Darg-estellten zu statten, die er vorher einzeln gemalt hatte. In den Einzel-
bildnissen hatte er mit größter Gewissenhaftigkeit alle Züge der Gesichter
studiert und nach einem linearen Ausdruck gesucht. Die merkwürdigste dieser
Vorstudien, die so wenig von den gewohnten Studien des Malers haben, ist das
Mädchen im Besitz des Sammlers Gangnat, der es auf der Vente Berard erwarb.
Es ist dasselbe Mädchen, das in dem Berliner Gemälde auf dem Sopha sitzt.
Alle Details sind mit der Genauigkeit eines Prärafaeliten gezeichnet. Jede Improvi-
sation ist peinlich vermieden, die Tusche verschwindet nahezu, die Fläche ist glatt
wie auf einem Ingres. Man könnte an eine vergrößerte Miniatur auf Elfenbein
denken und ist stets aufs neue erstaunt, wenn man dieses Bild mit dem bei aller
Derbheit weichen, luftigen Berliner Gemälde vergleicht.

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