VTruent
Ausdruck! Heute erschöpfte man sich bis aufs Blut bei jedem Stilleben.
Tat man es nicht, blieb die Materie regungslos. Das war es, was Gauguin
mit anderen Mitteln suchte. Jetzt erst verstand Vincent den Widerstand
gegen die eigene ungestüme Art. Gauguin hatte recht. Man mußte kon-
ventioneller werden, konnte nie genug konventionell sein. Aber woher die
Konvention nehmen? Delacroix hatte sie von zu Hause. Es gab damals
noch ein wirksames, greifbares, redendes, handelndes Europa in Paris,
nicht nur ein Paris der Artisten. Es gab Gebärden, nicht nur in Bildern.
Dies war Gauguins Stichwort: anständige Gebärden. Da die entwurzelte
Künstlerbande die faule Geste des Bourgeois durchschaut hatte, was kein all-
zu großes Kunststück war, bildete man sich ein, mit Rülpsen und Spucken
ehrlicher zu sein, und verlegte die Gebärde in den Schwung des Pinsels.
Eines Tages kehrte man reumütig zu Ingres zurück. Gut, es gab keinen
wirksamen Mythus mehr, also galt es, einen neuen zu finden. Wenn nicht
in Europa, so draußen irgendwo bei den Wilden. Da wimmelte es von
ungeahnten Legenden. Ob Vincent mit nach Martinique wolle?
Vincents Freude über die spontane Aufforderung überwand den Schauder
vor der exotischen Zone. Überall ging er mit, bis ans Ende der Welt. Den
Mythus aber brachte nur Gemeinschaft hervor. Ob man sie hier oder
dort fand, wo sie entstand, wuchs ein Tempel. Wo zwei zusammen wa-
ren, war Gott. Gut, man verlegte das gelbe Haus nach Martinique.
Delacroix aber führte sie sanft nach Europa zurück. Sie standen vor den
»algerischen Frauen«. Daneben hing das schöne Kniestück der Mulattin.
Das hatte Gauguin einmal mit Enthusiasmus kopiert. Ja, das Europa
Delacroix’! Es reichte weiter als die Banlieue von Paris, wo die meisten
stecken blieben. Der war draußen gewesen. Natürlich bestand für ge-
wöhnliche Sterbliche die Gefahr, draußen zu einem exotischen Menschen
zu werden. Man ging mit der Gefahr leichtsinnig um, weil im Inland
andere Gefahren drohten. Gauguin bildete sich nichts darauf ein, nicht
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Ausdruck! Heute erschöpfte man sich bis aufs Blut bei jedem Stilleben.
Tat man es nicht, blieb die Materie regungslos. Das war es, was Gauguin
mit anderen Mitteln suchte. Jetzt erst verstand Vincent den Widerstand
gegen die eigene ungestüme Art. Gauguin hatte recht. Man mußte kon-
ventioneller werden, konnte nie genug konventionell sein. Aber woher die
Konvention nehmen? Delacroix hatte sie von zu Hause. Es gab damals
noch ein wirksames, greifbares, redendes, handelndes Europa in Paris,
nicht nur ein Paris der Artisten. Es gab Gebärden, nicht nur in Bildern.
Dies war Gauguins Stichwort: anständige Gebärden. Da die entwurzelte
Künstlerbande die faule Geste des Bourgeois durchschaut hatte, was kein all-
zu großes Kunststück war, bildete man sich ein, mit Rülpsen und Spucken
ehrlicher zu sein, und verlegte die Gebärde in den Schwung des Pinsels.
Eines Tages kehrte man reumütig zu Ingres zurück. Gut, es gab keinen
wirksamen Mythus mehr, also galt es, einen neuen zu finden. Wenn nicht
in Europa, so draußen irgendwo bei den Wilden. Da wimmelte es von
ungeahnten Legenden. Ob Vincent mit nach Martinique wolle?
Vincents Freude über die spontane Aufforderung überwand den Schauder
vor der exotischen Zone. Überall ging er mit, bis ans Ende der Welt. Den
Mythus aber brachte nur Gemeinschaft hervor. Ob man sie hier oder
dort fand, wo sie entstand, wuchs ein Tempel. Wo zwei zusammen wa-
ren, war Gott. Gut, man verlegte das gelbe Haus nach Martinique.
Delacroix aber führte sie sanft nach Europa zurück. Sie standen vor den
»algerischen Frauen«. Daneben hing das schöne Kniestück der Mulattin.
Das hatte Gauguin einmal mit Enthusiasmus kopiert. Ja, das Europa
Delacroix’! Es reichte weiter als die Banlieue von Paris, wo die meisten
stecken blieben. Der war draußen gewesen. Natürlich bestand für ge-
wöhnliche Sterbliche die Gefahr, draußen zu einem exotischen Menschen
zu werden. Man ging mit der Gefahr leichtsinnig um, weil im Inland
andere Gefahren drohten. Gauguin bildete sich nichts darauf ein, nicht
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