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Meier-Graefe, Julius
Die weisse Strasse — Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.30357#0054
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Es war eigentlich eine Zumutung, zumal mit
meinen Cholerabeinen. Ich blieb eine ganze Weile
steif und aufrecht. Dann, während ich etwas Inter-
essantes über Napoleon sagte, lehnte ich mich ein-
mal wie zufällig zurück in die Lederecke und sprach
weiter. Die tiefe Ecke war unglaublich weich und
umfassend. Man hätte zehn Jahre in so einer Ecke
bleiben können. Es roch auch nicht mehr, und
schließlich war es gut so.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich
lang ausgestreckt unter einer Decke hinter dem
breiten Rücken des Offiziers. Er sah ganz anders
aus als in der Nacht, hatte fast weißes Haar. Nur
die schwarze Warze auf der linken Backe erinnerte
mich. Er verhandelte gerade mit halblauter Stimme
mit dem Burschen. In dem riesigen Ofen brannte
lustiges Feuer. Bald nachher kam ein jüngerer
Militärarzt herein, der deutsch sprach, ein Pole.
Die meisten Offiziere in Nowo-Georgiewsk waren
Polen, nur nicht die höheren. Nun, von den höheren
hätte ich ja ein Muster kennen gelernt. Er war
Arzt in Warschau, hatte in Heidelberg und in Berlin
studiert, kannte zufällig meine Bücher. Er kannte
überhaupt Deutschland sehr genau.

Seine Art stach merkwürdig von dem Raum ab,
auch von der Art meines Wirtes, trotzdem der auch
Pole war. Man hätte sich einbilden können, auf
einer wüsten Insel mitten im Ozean plötzlich einen
Bekannten zu treffen. Ich erfuhr, was mein Wirt
in der Nacht riskiert hatte. Wäre er kontrolliert
und ich bei ihm gefunden worden, hätte man ihn
ins Gefängnis gesteckt, womöglich degradiert. Der

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