Hribrlbrrger FamlieiiMttkr.
HKeü'elristische Aeilage zur Keidel'ßerger Zeitung.
Mittwoch, den 5. November
Nr. 8S.
1884.
Im Kann.
Novelle von F. L. Raimar.
(Fortsetzung.)
Otto's Abschiedsgesuch hatte keine Beanstandung er-
fahren, und damit waren auch die übrigen Bande, welche
ihn an die bisherigen Verhältnisse fesselten, schnell gelöst
worden. Ebenso hatte sich die Uebersiedelung nach Mellingen
rasch vollzogen. Mit soviel Festlichkeiten, als die Familien-
trauer zulassen wollte, war der Einzug ihres Herrn und
seiner Gemahlin von den Gutsangehörigen gefeiert worden;
und wie schon einmal hatte Hedwig an der Schwelle des
Hauses gestanden, um beide zu empfangen. Nun aber lag
es Otto und Pauline ob, sich jenes neue Leben, nach dem
sie jin übereinstimmendem Verlangen gegriffen hatten, zu
gestalten.
Für den ersteren ward diese Aufgabe zu keiner schweren.
Seine Pläne und Voraussichten waren von vorn herein
auf bestimmte Punkte gerichtet gewesen, hatten bestimmte
.Grenzen gehabt; so fand er denn seine Wege vorgezeichnet
und betrat sie mit liebevollem Eifer und sicherem Schritt.
Anders war es indessen mit Pauline. An jedem Tage, zu
jeder Stunde fast fand sie sich etwas Ueberraschendem, Un-
erwarteten gegenüber, von dem sie nicht bloß Eindrücke zu
empfangen hatte, das auch Forderungen an sie stellte, For-
derungen, mit denen sie nie gerechnet hatte. Von wie
mancher Seite sie auch das Leben kennen gelernt haben
mochte: diese eine, die praktische, nüchterne war ihr fremd
geblieben, und wie vollkommen bisher alle Situationen von
ihr beherrscht worden waren: hier machten die einfachsten
Verhältnisse sie oft rathlos. Indessen hinderte es schon
ihr Stolz, daß ihr Wille sofort besiegt ward, und eine
Weile bemühte sie sich redlich, der neuen Lage und den
Pflichten, welche dieselben mit sich brachte, gerecht zu wer-
den, und sie wollte es sich dabei selbst kaum gestehen, wie-
viel bereits von dem Schimmer, der zuerst alle Dinge um-
geben hatte, verloren war. Vor der vollen Erkenntniß
schützte sie dann aber Otto, welcher wohl anfangs mit einem
stillen Lächeln ihren Verlegenheiten zugeschaut hatte, da es
ihm, dessen Selbstgefühl auf dem eigenen Grund und Bo-
den erstarkt war, eine Art Genugthunng bereitete, zum
erstenmal bei Pauline einer gewissen Unzulänglichkeit begegnet
zu sein, der sie jedoch einer Beschämung, einer Niederlage
gar nimmermehr ausgesetzt sehen wollte.
„Gib dein Mühen auf," redete er ihr zu, „die Prosa
des Lebens ist nicht für dich, und darum will ich, daß dir
diese rauhe Seite unseres Tagewerks erspart bleibe!"
„Aber ich versprach dir, dasselbe zu theilen," wandte
sie ein.
„Hedwig ist da!" sagte er ruhig.
Ja, Hedwig war da! Was ihre feste kleine Hand ge-
leistet, schon zu Lebzeiten der Tante, erwies sich erst jetzt,
als Otto die Zügel des Regiments übernommen hatte, doch
aber alle Augenblicke gezwungen war, mit einer Frage, einer
Erkundigung, der Bitte um Rath sogar zu ihr zurückzu-
kehren und ihr alsdann gar häufig halb bewundernd zu
sagen: „Du bist ein Schatz für Mellingen, Mädchen, sein
guter Geist! Wüßte ich doch kaum, wie es ohne dich hier
werden sollte!"
Sie jedoch legte offenbar nicht viel Gewicht auf solche
Anerkennung. Ein einziges Mal nur hatte sie in ähnlichem
Fall eine Antwort für ihn, als er ihr zugleich die Frage
vorlegte, wie sie nur dazu gekommen sei, sich so vertraut
mit allen Zweigen der Wirthschaft, den niedrigsten sogar zu
machen, während ihr doch früher jede andere Neigung eher
als eine solche zuzuschreiben gewesen wäre.
„Du magst wissen, Otto," sagte sie, nachdem ihre,
hübschen weißen Zähne eine Sekunde lang die Lippen ge-
nagt hatten; „es gab eine Zeit, wo ich mich für nichts
Besseres in der Welt hielt als einen Nichtsnutz — und
um das nicht zu bleiben, wollte ich irgend etwas, aber
etwas Schweres, thun; — und darum zwang ich mich,
Augen und Ohren gerade da aufzumachen, wo ich sie am
liebsten zugemacht hätte, und faßte alle Dinge, die mir in
den Weg kamen, so lange herzhaft an, bis ich es vergessen
hatte, daß sie mir vordem ein Abscheu gewesen waren!"
Otto lachte herzlich zu dieser Idee einer praktischen
Selbsterziehung, von der er sagte, dsffffie nur-in-emMr-so-
krausen Köpfchen wie Hedwigs habe entstehen können. Daß
die Frucht derselben indessen alles Lob verdiene — dabei
blieb er, während sie wiederum fortfuhr, das letztere nur
mit einem Achselzucken zu begleiten.
Paulinen gegenüber war Hedwig von Anfang an die
bereitwilligste und unermüdlichste Lehrmeisterin gewesen; wie
sie aber nie ein Wort der Ungeduld oder des Spotts ge-
funden hatte, wenn dieser ihre Versuche und Leistungen nicht
glücken wollten, so gestattete sie sich nicht die leiseste Be-
merkung, geschweige denn einen Tadel, als die junge Guts-
herrin sich ganz von den häuslichen Geschäften zurückzog;
die Person der letzteren galt ihr in jeder Weise als eine
unantastbare.
VII.
Ein paar Monate waren mittlerweile hingegangen und
draußen auf den Feldern hatte die Ernte begonnen. Für
Otto brachte diese Zeit eine erhöhte Thätigkeit, und es gab
Tage, wo er nur für die Dauer der Mahlzeiten in seiner
Wohnung anwesend war, weil er es Vortheilhaft gefunden
hatte, wenn die Arbeiten von ihm selbst beaufsichtigt wur-
den und wo Pauline darum, indem auch Hedwig ihre Be-
schäftigung vielfach in den Wirthschaftsräumen fand, auf
ihre eigene Gesellschaft angewiesen blieb.
Auch heute war dies der Fall gewesen und die ver-
längerte Einsamkeit wohl hatte es gemacht, daß sie nun,
da es Abend geworden war, auf den vor ihrem Zimmer
befindlichen Balkon hinaustrat, um den Weg, auf dem Otto
zurückkehren mußte, entlang zu blicken.
Die Bäume des Parks warfen lange Schatten auf die
Rasenplätze und unter ihren Aesten dunkelte es bereits be-
trächtlich. Mit schwirrendem Flug kehrten die Tauben
heim und suchten ihre Schläge auf. Die Sonne aber stand
noch am Horizont und in ihren schrägen Strahlen tanzten
HKeü'elristische Aeilage zur Keidel'ßerger Zeitung.
Mittwoch, den 5. November
Nr. 8S.
1884.
Im Kann.
Novelle von F. L. Raimar.
(Fortsetzung.)
Otto's Abschiedsgesuch hatte keine Beanstandung er-
fahren, und damit waren auch die übrigen Bande, welche
ihn an die bisherigen Verhältnisse fesselten, schnell gelöst
worden. Ebenso hatte sich die Uebersiedelung nach Mellingen
rasch vollzogen. Mit soviel Festlichkeiten, als die Familien-
trauer zulassen wollte, war der Einzug ihres Herrn und
seiner Gemahlin von den Gutsangehörigen gefeiert worden;
und wie schon einmal hatte Hedwig an der Schwelle des
Hauses gestanden, um beide zu empfangen. Nun aber lag
es Otto und Pauline ob, sich jenes neue Leben, nach dem
sie jin übereinstimmendem Verlangen gegriffen hatten, zu
gestalten.
Für den ersteren ward diese Aufgabe zu keiner schweren.
Seine Pläne und Voraussichten waren von vorn herein
auf bestimmte Punkte gerichtet gewesen, hatten bestimmte
.Grenzen gehabt; so fand er denn seine Wege vorgezeichnet
und betrat sie mit liebevollem Eifer und sicherem Schritt.
Anders war es indessen mit Pauline. An jedem Tage, zu
jeder Stunde fast fand sie sich etwas Ueberraschendem, Un-
erwarteten gegenüber, von dem sie nicht bloß Eindrücke zu
empfangen hatte, das auch Forderungen an sie stellte, For-
derungen, mit denen sie nie gerechnet hatte. Von wie
mancher Seite sie auch das Leben kennen gelernt haben
mochte: diese eine, die praktische, nüchterne war ihr fremd
geblieben, und wie vollkommen bisher alle Situationen von
ihr beherrscht worden waren: hier machten die einfachsten
Verhältnisse sie oft rathlos. Indessen hinderte es schon
ihr Stolz, daß ihr Wille sofort besiegt ward, und eine
Weile bemühte sie sich redlich, der neuen Lage und den
Pflichten, welche dieselben mit sich brachte, gerecht zu wer-
den, und sie wollte es sich dabei selbst kaum gestehen, wie-
viel bereits von dem Schimmer, der zuerst alle Dinge um-
geben hatte, verloren war. Vor der vollen Erkenntniß
schützte sie dann aber Otto, welcher wohl anfangs mit einem
stillen Lächeln ihren Verlegenheiten zugeschaut hatte, da es
ihm, dessen Selbstgefühl auf dem eigenen Grund und Bo-
den erstarkt war, eine Art Genugthunng bereitete, zum
erstenmal bei Pauline einer gewissen Unzulänglichkeit begegnet
zu sein, der sie jedoch einer Beschämung, einer Niederlage
gar nimmermehr ausgesetzt sehen wollte.
„Gib dein Mühen auf," redete er ihr zu, „die Prosa
des Lebens ist nicht für dich, und darum will ich, daß dir
diese rauhe Seite unseres Tagewerks erspart bleibe!"
„Aber ich versprach dir, dasselbe zu theilen," wandte
sie ein.
„Hedwig ist da!" sagte er ruhig.
Ja, Hedwig war da! Was ihre feste kleine Hand ge-
leistet, schon zu Lebzeiten der Tante, erwies sich erst jetzt,
als Otto die Zügel des Regiments übernommen hatte, doch
aber alle Augenblicke gezwungen war, mit einer Frage, einer
Erkundigung, der Bitte um Rath sogar zu ihr zurückzu-
kehren und ihr alsdann gar häufig halb bewundernd zu
sagen: „Du bist ein Schatz für Mellingen, Mädchen, sein
guter Geist! Wüßte ich doch kaum, wie es ohne dich hier
werden sollte!"
Sie jedoch legte offenbar nicht viel Gewicht auf solche
Anerkennung. Ein einziges Mal nur hatte sie in ähnlichem
Fall eine Antwort für ihn, als er ihr zugleich die Frage
vorlegte, wie sie nur dazu gekommen sei, sich so vertraut
mit allen Zweigen der Wirthschaft, den niedrigsten sogar zu
machen, während ihr doch früher jede andere Neigung eher
als eine solche zuzuschreiben gewesen wäre.
„Du magst wissen, Otto," sagte sie, nachdem ihre,
hübschen weißen Zähne eine Sekunde lang die Lippen ge-
nagt hatten; „es gab eine Zeit, wo ich mich für nichts
Besseres in der Welt hielt als einen Nichtsnutz — und
um das nicht zu bleiben, wollte ich irgend etwas, aber
etwas Schweres, thun; — und darum zwang ich mich,
Augen und Ohren gerade da aufzumachen, wo ich sie am
liebsten zugemacht hätte, und faßte alle Dinge, die mir in
den Weg kamen, so lange herzhaft an, bis ich es vergessen
hatte, daß sie mir vordem ein Abscheu gewesen waren!"
Otto lachte herzlich zu dieser Idee einer praktischen
Selbsterziehung, von der er sagte, dsffffie nur-in-emMr-so-
krausen Köpfchen wie Hedwigs habe entstehen können. Daß
die Frucht derselben indessen alles Lob verdiene — dabei
blieb er, während sie wiederum fortfuhr, das letztere nur
mit einem Achselzucken zu begleiten.
Paulinen gegenüber war Hedwig von Anfang an die
bereitwilligste und unermüdlichste Lehrmeisterin gewesen; wie
sie aber nie ein Wort der Ungeduld oder des Spotts ge-
funden hatte, wenn dieser ihre Versuche und Leistungen nicht
glücken wollten, so gestattete sie sich nicht die leiseste Be-
merkung, geschweige denn einen Tadel, als die junge Guts-
herrin sich ganz von den häuslichen Geschäften zurückzog;
die Person der letzteren galt ihr in jeder Weise als eine
unantastbare.
VII.
Ein paar Monate waren mittlerweile hingegangen und
draußen auf den Feldern hatte die Ernte begonnen. Für
Otto brachte diese Zeit eine erhöhte Thätigkeit, und es gab
Tage, wo er nur für die Dauer der Mahlzeiten in seiner
Wohnung anwesend war, weil er es Vortheilhaft gefunden
hatte, wenn die Arbeiten von ihm selbst beaufsichtigt wur-
den und wo Pauline darum, indem auch Hedwig ihre Be-
schäftigung vielfach in den Wirthschaftsräumen fand, auf
ihre eigene Gesellschaft angewiesen blieb.
Auch heute war dies der Fall gewesen und die ver-
längerte Einsamkeit wohl hatte es gemacht, daß sie nun,
da es Abend geworden war, auf den vor ihrem Zimmer
befindlichen Balkon hinaustrat, um den Weg, auf dem Otto
zurückkehren mußte, entlang zu blicken.
Die Bäume des Parks warfen lange Schatten auf die
Rasenplätze und unter ihren Aesten dunkelte es bereits be-
trächtlich. Mit schwirrendem Flug kehrten die Tauben
heim und suchten ihre Schläge auf. Die Sonne aber stand
noch am Horizont und in ihren schrägen Strahlen tanzten