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VII. Ausbildung und Stellung der Ingenieure etc.
ständen möglich, sie insgesammt bis zum höchsten Grade der Feinheit zu be-
sitzen, da es fast die Fähigkeit eines Menschen übersteigt, nur die Theorie
derselben einzusehen und zu begreifen. Ja, auch nicht nur den Baukünstlern
ist es versagt, in allen Stücken vollkommene Meister zu werden, sondern es
können selbst die nicht einmal, welche sich auf gewisse Künste besonders
legen, es möglich machen, dass sie alle darin den ersten Preis davontragen.
Da nun in einzelnen Künsten bei weitem nicht alle Künstler, sondern in ganzen
Jahrhunderten nur wenige Genien sich rühmlich hervorgethan haben: wie sollte
denn der Architekt, der mehrerer Künste kundig sein muss, es dahin bringen
können, nicht allein (was schon nichts geringes ist) es an keiner fehlen zu
lassen, sondern in jeder sogar alle Meister, die sich geflissentlich und ganz
ausschliesslich darauf gelegt, zu übertreffen? Es scheint mir also Pythius
sich hierin geirrt zu haben, indem er ausser Acht gelassen, dass jede Kunst
aus zwei Stücken besteht, aus Ausübung und Theorie. Die Eine ist denen
eigen, so diese Kunst besonders zu treiben beflissen sind, nämlich die Aus-
übung; die Andere aber ist allen Gelehrten gemein, nämlich die Theorie. So,
zum Beispiel, sprechen Arzt und Tonkünstler vom Rythmus der Adern, und
von der Füsse Bewegung; ist aber eine Wunde zu heilen, oder ein Kranker
der Gefahr zu entreissen, so muss nicht der Musiker gerufen werden, sondern
der Arzt, dessen eigenes Geschäft dieses ist. Hingegen muss nicht der Arzt,
sondern der Tonkünstler das Instrument stimmen, damit durch dessen an-
genehme Musik die Ohren ergötzt werden mögen. Ingleichen reden Astronomen
und Musiker gemeinschaftlich von der Sympathie der Gestirne und der Con-
sonanzen, in Vier-, Dreiecken, in Diatessaron — Quarte — und Diapente —
Quinte —; und mit ihnen der Geometer von der Sehekunst, welche die
Griechen Optik heissen; und überhaupt alle Wissenschaften von vielen, ja von
allen Dingen, die sie in der Theorie mit einander gemein haben. Jedoch die
Ausübung, welche nur vermittelst Handanlegung und thätigen Fleisses zur Voll-
kommenheit gelangt, ist einzig die Sache derjenigen, welche sich ganz besonders
auf eine einzelne Kunst gelegt haben. Es wird also auch für einen Baukünstler
hinlänglich sein, nur einigermassen die Theile und Theorie der einzelnen
Wissenschaften und Künste, welcher die Architektur bedarf, zu wissen, damit
er, wenn er über die einschlagenden Gegenstände zu urtheilen, oder hiervon
Gebrauch zu machen hat, nicht stecken bleibe oder einen Fehler begehe.
Wem die Natur so viel Geschicklichkeit, Scharfsinn und Gedächtniss gegeben
hat, dass er Geometrie, Astronomie uud Musik sammt den übrigen Wissen-
schaften aus dem Grunde erlernen kann: der bleibt nicht beim Baukünstler
stehen, sondern wird ein Mathematiker, und kann, da er mit mehreren Kennt-
nissen ausgerüstet ist. auch mit desto grösserer Leichtigkeit über alle diese
Wissenschaften sprechen. Solche Köpfe giebt es jedoch nur selten. Es waren
aber dergleichen ehedem Aristarchus von Samos, Philolaus und Archytas aus
Tarent, Apollonius aus Perge, Eratosthenes aus Kyrene, und Archimedes und
VII. Ausbildung und Stellung der Ingenieure etc.
ständen möglich, sie insgesammt bis zum höchsten Grade der Feinheit zu be-
sitzen, da es fast die Fähigkeit eines Menschen übersteigt, nur die Theorie
derselben einzusehen und zu begreifen. Ja, auch nicht nur den Baukünstlern
ist es versagt, in allen Stücken vollkommene Meister zu werden, sondern es
können selbst die nicht einmal, welche sich auf gewisse Künste besonders
legen, es möglich machen, dass sie alle darin den ersten Preis davontragen.
Da nun in einzelnen Künsten bei weitem nicht alle Künstler, sondern in ganzen
Jahrhunderten nur wenige Genien sich rühmlich hervorgethan haben: wie sollte
denn der Architekt, der mehrerer Künste kundig sein muss, es dahin bringen
können, nicht allein (was schon nichts geringes ist) es an keiner fehlen zu
lassen, sondern in jeder sogar alle Meister, die sich geflissentlich und ganz
ausschliesslich darauf gelegt, zu übertreffen? Es scheint mir also Pythius
sich hierin geirrt zu haben, indem er ausser Acht gelassen, dass jede Kunst
aus zwei Stücken besteht, aus Ausübung und Theorie. Die Eine ist denen
eigen, so diese Kunst besonders zu treiben beflissen sind, nämlich die Aus-
übung; die Andere aber ist allen Gelehrten gemein, nämlich die Theorie. So,
zum Beispiel, sprechen Arzt und Tonkünstler vom Rythmus der Adern, und
von der Füsse Bewegung; ist aber eine Wunde zu heilen, oder ein Kranker
der Gefahr zu entreissen, so muss nicht der Musiker gerufen werden, sondern
der Arzt, dessen eigenes Geschäft dieses ist. Hingegen muss nicht der Arzt,
sondern der Tonkünstler das Instrument stimmen, damit durch dessen an-
genehme Musik die Ohren ergötzt werden mögen. Ingleichen reden Astronomen
und Musiker gemeinschaftlich von der Sympathie der Gestirne und der Con-
sonanzen, in Vier-, Dreiecken, in Diatessaron — Quarte — und Diapente —
Quinte —; und mit ihnen der Geometer von der Sehekunst, welche die
Griechen Optik heissen; und überhaupt alle Wissenschaften von vielen, ja von
allen Dingen, die sie in der Theorie mit einander gemein haben. Jedoch die
Ausübung, welche nur vermittelst Handanlegung und thätigen Fleisses zur Voll-
kommenheit gelangt, ist einzig die Sache derjenigen, welche sich ganz besonders
auf eine einzelne Kunst gelegt haben. Es wird also auch für einen Baukünstler
hinlänglich sein, nur einigermassen die Theile und Theorie der einzelnen
Wissenschaften und Künste, welcher die Architektur bedarf, zu wissen, damit
er, wenn er über die einschlagenden Gegenstände zu urtheilen, oder hiervon
Gebrauch zu machen hat, nicht stecken bleibe oder einen Fehler begehe.
Wem die Natur so viel Geschicklichkeit, Scharfsinn und Gedächtniss gegeben
hat, dass er Geometrie, Astronomie uud Musik sammt den übrigen Wissen-
schaften aus dem Grunde erlernen kann: der bleibt nicht beim Baukünstler
stehen, sondern wird ein Mathematiker, und kann, da er mit mehreren Kennt-
nissen ausgerüstet ist. auch mit desto grösserer Leichtigkeit über alle diese
Wissenschaften sprechen. Solche Köpfe giebt es jedoch nur selten. Es waren
aber dergleichen ehedem Aristarchus von Samos, Philolaus und Archytas aus
Tarent, Apollonius aus Perge, Eratosthenes aus Kyrene, und Archimedes und